: Der große Markt der kurzen Hosen
In Italiens Süden werden Tausende von Kindern widerrechtlich zu harter Arbeit gezwungen. Der Sozialarbeiter Americo Alla sucht diese Kinder, bringt sie zu ihren Eltern zurück – und fragt sich, ob das eigentlich Sinn hat ■ Aus der Basilicata Werner Raith
Was haben die Rinderseuche BSE, die Schweinepest und die Hühnergrippe mit Sklaverei zu tun? „Viel“, sagt Americo Alla und schlägt seinen Aktenordner zu, in den er gerade mehrere Stöße von Fotografien und Dokumenten eingelegt hat. „Weil diese Krankheiten die Leute vom Kauf des entsprechenden Fleisches abhalten, hat nun alles Konjunktur, was nicht von diesen Tieren stammt.“ Und das ist, neben Kaninchen, vor allem Lamm, Hammel und Kitz. Ja und? „Weil eine so gewaltige Nachfrage nach Hammelfleisch besteht, gibt es immer mehr Schafherden – dazu aber braucht man Hirten.“ Und da sind wir, nach Americos Ansicht, bei der Sklaverei angelangt. Denn aus Kostengründen werden in Unteritalien die Herden meist von blutjungen Kindern gehütet – bei Wind und Wetter, ohne Bezahlung und ohne Kontrolle ihrer Gesundheit.
Americo hat die Gegend von Altamura zum Ausgangspunkt seiner Ermittlungen gemacht, an der Grenze der Regionen Apulien und Basilicata im Süden des Landes. Dort nämlich hat der „Markt der kurzen Hosen“ besondere Tradition: „Hier werden Kinder von ihren eigenen Eltern an Hirten und auch an Fabriken verkauft oder vermietet, für ein oder zwei Jahre, ohne Kontrolle über ihr Ergehen und oft ohne Gewähr, daß sie jemals wieder heimkehren. Es ist nichts anderes als Sklaverei.“ Americo, 38, ist Sozialarbeiter und unterstützt Kinderhilfsorganisationen und auch die Polizei beim Kampf gegen die Ausbeutung junger Menschen. Als eine Art Undercoveragent versucht er sich Gegenden oder auch Fabriken zu nähern, in denen Kinder-Schwarzarbeit vermutet wird.
Bis in die 70er Jahre gab es den „Markt der kurzen Hosen“ speziell in der altehrwürdigen Kleinstadt Altamura, aber auch in anderen Ortschaften, ganz offiziell: Zu Ostern wurden an der Mauer der Pfarrkirche Jungen im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren von ihren Eltern regelrecht „ausgestellt“. Interessenten prüften die Muskeln der Jungen, kniffen sie in die Backe, zur Kontrolle, ob sie nicht zuviel Fett an sich hatten, und handelten dann mit den Eltern einen Preis aus. „Damals waren das drei-, vier- oder auch mal fünfhunderttausend Lire pro Jahr“, umgerechnet nach damaligem Kurs zwischen 1.500 und 2.000 Mark.
„Der Junge ging von diesem Moment an mit dem Hirten, wurde von diesem verpflegt, aber das war auch schon alles. Er hatte faktisch alle elterliche Gewalt über ihn, und nicht selten wurden die Kinder, wenn sie verzweifelt abhauen wollten, nachts in den Unterständen angebunden oder jedenfalls so windelweich geprügelt, daß sie es nicht noch einmal versuchten. Lohn bekamen sie natürlich keinen.“
Mitte der siebziger Jahre wurde dieser Menschenhandel offiziell verboten, aber es gibt starke Indizien, daß er gegenwärtig einen neuen Boom erlebt. Und so zieht Americo durch die Berge auf der Suche nach Hirtenjungen, die da nicht hingehören, besucht Fabriken oder Werkstätten, in denen gerne mal Zwölf- oder Dreizehnjährige zu harter Arbeit benutzt werden, oft in muffigen Räumen und für Arbeiten, wo kleine, flinke Finger gefragt sind.
„Wir machen das mit einer Art Rasterfahndung“, sagt der Carabinieri-Feldwebel, der kurz vor der Abfahrt noch ein paar Materialien für Americos Mappe vorbeibringt: „Wir suchen aus den Schulregistern diejenigen heraus, die ohne weitere Begründung vorzeitig abgegangen sind, prüfen nach, ob angeblich in andere Regionen verschickte Kinder wirklich dort angekommen sind, oder schicken schon mal Amtsärzte, um nachzuprüfen, ob die Krankheit des Kindes dieses wirklich für Monate zu Hause hält.“ Oft reden sich die Eltern darauf hinaus, daß ihr Sohn abgehauen ist oder daß er Verwandte in Südamerika besucht. „Die alle nehmen wir in die Liste möglicherweise verkaufter Kinder auf.“
Die Fahndung lohnt, wie eine Liste Americos zeigt. „Alle Namen, hinter denen ein Kreuzchen steht, haben wir irgendwo wiedergefunden, dahinter steht auch, wo und unter welchen Umständen“, erklärt er. Ein gutes Dutzend Kreuzchen bezieht sich auf kleine Fabriken – das jüngste dort zur Arbeit gezwungene Mädchen war acht Jahre alt. Gut zehn wurden in Handwerksbetrieben aufgespürt, vor allem in Reparaturwerkstätten. Aber auch in industriellen Großunternehmen fanden die Ermittler allein in Unteritalien mehr als zwanzig Kinder, die noch nicht hätten arbeiten dürfen – auch in Oberitalien sind derlei Fälle bekanntgeworden.
Der Gewerkschaftsdachverband CGIL hat statistisch belegt, daß bei der Überprüfung von 30.000 Betrieben durchschnittlich bei zehn Prozent Kinderausbeutung festgestellt wurde. „Und was das Schlimme ist“, setzt Americo dazu: „Es gibt unzählige schwere Unfälle mit solchen Kindern, auch tödliche, die dann systematisch vertuscht werden.“ Erst in den letzten Wochen haben Strafermittler eher zufällig zwei solcher Fälle entdeckt – ein Dreizehnjähriger wurde in einer Reparaturwerkstatt unter einem Lastwagen zerquetscht, und in einer Spinnerei starb ein elfjähriges Mädchen an einer Blutvergiftung, nachdem es sich die Hand schwer verletzt hatte und nicht behandelt worden war. Nicht alle diese Kinder sind verkauft worden – in einigen Fällen arbeiteten die Kleinen auch in elterlichen Betrieben, ausgebeutet gleichwohl.
Die Fahrt geht über Matera zur Staatsstraße Nr. 7, der altehrwürdigen Via Appia, dann auf die westlich liegende Schnellstraße 407.
Nach dem Stausee biegen wir ab, es geht über holprige Bergsträßchen, auf den steinigen Wiesen sieht man bald Dutzende von Herden. Unter dem Vorwand, sich verfahren zu haben, grast Americo sie systematisch ab, schießt mit seiner Polaroidkamera Fotos von den Hirtenjungen und kehrt dann zum Auto zurück. Da vergleicht er dann die Bilder mit den Beschreibungen und Fotos aus seinem Aktenordner. Fehlanzeige im ersten Fall, auch im zweiten und dritten – die Angabe, daß die Jungen ihrem Vater zur Hand gehen, ist nicht zu widerlegen. „Auch das wäre nicht erlaubt“, sagt Americo, „wenn man's genau nimmt: Die Burschen sind noch viel zu jung für diese Art Tätigkeit. Aber ohne sie würden die Eltern wohl ihre Betriebe aufgeben müssen.“
Auch der Abstecher in eine Verpackungsfirma, in der nach vertraulichen Angaben Kinder bei der Arbeit beobachtet worden waren, verläuft negativ. Ebenso in einer Kleiderfabrik, in der nach Carabinieri-Erkenntnissen vor allem gefälschte „Original“-Hemden und Gürtel hergestellt werden – wenngleich wir beide den Eindruck haben, daß bei unserer Ankunft plötzlich Hektik im Betrieb ausbrach und sich einige Türen im Hintergrund schlossen, durch die vielleicht gerade noch jemand rausgeschoben wurde.
Dann geht es wieder hinauf in die Berge.
Beim sechsten Schafherden-Besuch könnte Americo fündig geworden sein – die Beschreibung paßt auf einen Zwölfjährigen aus der Nähe von Melfi, der seit eineinhalb Jahren nicht mehr in seiner Schule gesehen wurde und der angeblich aus gesundheitlichen Gründen bei Freunden in Oberitalien weilt, ohne daß ihn die dortigen Behörden hatten ausfindig machen können. Der drahtige Junge mit dem kurzgeschnittenen, fast blonden Haar ist freundlich und gibt bereitwillig Auskunft über seinen „padrone“. Das Foto von ihm in Americos Archiv – es stammt von einer Weihnachtsfeier – ist aber leider zu verwaschen, um eindeutige Erkenntnisse zu gewinnen. So kehrt Americo zur Herde zurück, nimmt sich den Jungen noch einmal vor – und dann hat er es plötzlich eilig: Über sein Handy verständigt er die Carabinieri, und eine halbe Stunde danach kommen die mit dem Mann an, dem die Herde gehört.
Der ist etwa sechzig Jahre alt und beteuert wort- und gestenreich seine Unschuld; seiner Ansicht nach will ihn die Polizei einfach ruinieren. Der Junge, sagt er, sei von selbst zu ihm gekommen, nach dem Alter habe er nicht gefragt, bezahlen werde er ihn selbstverständlich – am Ende des Jahres, wie sich das gehört. Der Mann wird verhaftet, auf die Herde passen, bis zum Eintreffen eines neuen Hirten, einige Beamte auf.
In der Carabinieri-Station ist bereits alles für die Rückführung des Jungen organisiert, Papierkram erledigt, die Familie verständigt. Auch das Jugendamt wird eingeschaltet: Es muß entscheiden, ob der Junge zu seiner Familie zurückdarf, schließlich gelten seine Erzeuger ja nun als gewissenlose Rabeneltern. „Was sie keineswegs sein müssen“, sagt Americo bedrückt, als wir uns Melfi nähern.
Die Eltern des Jungen brechen in riesiges Wehgeschrei aus, als wir bei ihnen aufkreuzen, der Junge selbst ist völlig verdattert. Daß es ihr Sohn ist, räumen die Eltern immerhin ein – wenngleich die Versuchung, sich einfach wegzuleugnen, anfangs regelrecht in ihr Gesicht geschrieben steht. „Schämt ihr euch nicht, eure eigenen Kinder zu verkaufen?“ fährt sie der Carabiniere an. Die Eltern ducken sich, schauen ihn aber dabei verständnislos an. „Schämen?“ fragt der Vater nach einiger Zeit. „Ja wofür denn? Dafür, daß wir arm sind, daß wir arbeitslos sind, daß uns nur der Verkauf unseres Jungen so viel Geld brachte, um unsere anderen vier Kinder weiter ernähren zu können? Und was sollen wir nun machen, wenn der Schäfer kommt und von uns die zwei Millionen Lire (2.000 Mark) für unseren Jungen zurückverlangt?“ Die Polizisten heben beruhigend die Hände. „Er kommt bestimmt nicht, er sitzt im Gefängnis wegen Versklavung Minderjähriger.“ Worauf das Wehklagen der Eltern noch lauter wird. „Dann wird er uns umbringen.“
Es gibt keinen Fall, wo es Repressionen der Kinderkäufer gegen die Eltern gegeben hat, versichert Americo, als wir wieder draußen sind und die Carabinieri den Jungen – vorläufig – in ein Heim bringen. „Aber wenn man das Elend dieser Leute sieht – und das ist echt, nicht gespielt –, frage ich mich am Ende auch wieder, ob es wirklich Sinn hat, wenn ich diesen Jungen zurückbringe.“
Trotzdem drücken ihn auf der Heimfahrt noch andere Probleme, schwierigere. „Die italienischen Kinder können wir, einige Zähigkeit vorausgesetzt, mit unseren Methoden zum großen Teil ausfindig machen und zurückholen. Doch immer mehr stoßen wir jetzt auf Kinder von Immigranten, oft von illegal hier lebenden Familien, und da haben wir nicht die geringste Ahnung, wie wir die wieder zusammenführen können.“ Mehrere hundert oft halb verhungerter Kinder wurden im vergangenen Jahr in Heime gebracht – ohne daß jemand eine Vermißtenanzeige aufgibt.
Americo stützt den Kopf auf die Hände, als er am Abend lustlos sein Essen zu sich nimmt. Er murmelt etwas von der allgemeinen Sinnlosigkeit seiner Arbeit und daß er sich vorkomme wie Sisyphos, wenn er immer mal das eine oder andere Kind wieder auffinde. Er hat recht. Das Bild paßt auf ihn.
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