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■ Ein paar aufmunternde Worte an die Adresse der Bündnisgrünen über den Nutzen von Essentials vor den BundestagswahlenEinsteigen und Herankommen

Die Bündnisgrünen schrecken davor zurück, im Wahlkampf allzu deutlich zu sagen, was für sie nach der Wahl die Mindestforderungen für den Abschluß einer rot-grünen Koalition sein werden. Je nach Mitteilsamkeit der befragten Funktionsträger schwankt die Zahl zwischen zwei und fünf. Die bündnisgrünen Politiker fürchten einfach, an Verhandlungsspielraum einzubüßen. Sie wissen auch um den kumulativen Effekt von Essentialdebatten: Das Minimum pflegt sich ins Maximum auszudehen.

Dennoch gehören die Essentials nicht ins Geheimfach, das erst geöffnet wird, wenn nach einem Sieg von Rot-Grün die künftigen Kräfteverhältnisse feststehen und das große Feilschen beginnt. Denn die Frage der bündnisgrünen Aktivisten, worauf man im Regierungsfall um keinen Preis verzichten möchte, ist häufig identisch mit der Frage der Wähler, ob sie überhaupt für Grün votieren wollen.

Im Gegensatz zu dem, was Essentials im Wortsinn bedeuten, geben Forderungen dieses Typs einfach Antwort auf die Frage, ob es sich lohnt, ins Regierungsgeschäft einzusteigen. „Kohl abwählen!“ ist offensichtlich ein genausowenig befriedigendes Minimalprogramm wie es „Strauß verhindern!“ 1980 war. Dem gegenüber bilden Essentials ein Medium der Selbstverständigung nach „Innen“ wie nach „Außen“ über das, was realistischerweise innnerhalb einer Koalition durchgesetzt werden kann und muß. Sie geben Auskunft über die grundlegenden Ziele der Partei, enthalten aber auch eine Prognose über die Durchsetzungskraft der eigenen Positionen.

Solche Forderungen sind ein Kreuzungsprodukt aus identity und rational choice. Sie enthalten zwei Aussagen: Wenn ihr uns wählt, passiert mindestens das Folgende. Und dieses Folgende ist durch die „Kettenglieder“ xy mit unserem Ziel, dem ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, verbunden. Wenn das stimmt, muß das „Dann eben ohne uns, dann macht euren Dreck in der großen Koalition alleine“ nicht nur als mentaler Vorbehalt, sondern in der Öffentlichkeit gegenwärtig sein. Essentials setzen eine mögliche Alternative zur Regierungsbeteiligung voraus. Ein Gemeinplatz, der den Vorzug hat, zu stimmen.

Hinter solchen Überlegungen versteckt sich ein alter Bekannter – das Problem des „Herankommens“, mit dem sich die Kommunisten früherer Jahrzehnte jedesmal herumschlagen mußten, wenn es um die Bildung von Volksfronten mit der mächtigeren Sozialdemokratie ging. Nur daß jetzt nicht mehr die sozialistische Revolution in Frage steht, sondern ein – in den Konsequenzen allerdings tief ins gesellschaftliche Gefüge eingreifendes – ökologisches und soziales Reformprogramm. Der Begriff des „Einstiegs“ ist bei Licht betrachtet nichts anderes als das gute alte „Herankommen“. Daher die Wichtigkeit präziser Maßnahmen und Zeitpläne, die mit ihm verbunden sein müssen.

Unglücklicherweise gibt es auch ein Interesse an grünen Essentials, und zwar den falschen, bei den politischen Gegnern der Bündnisgrünen. Die Reaktionen auf den Magdeburger Parteitag von Westerwelle bis Hintze sind hier lehrreich. Sie stellen den Versuch dar, den Grünen das Image des Maximalismus, also der Regierungsunfähigkeit anzuhängen. Instrumente dieses Versuchs sind die ablehnende Haltung der Magdeburger Parteitagsmehrheit gegenüber der Beteiligung der Bundeswehr an friedenserzwingenden Aktionen nach Abschnitt VIII der UNO- Charta und die Forderung nach einer schrittweisen Erhöhung der Benzinpreise auf fünf Mark. Falls die Bündnisgrünen sich in die Ecke des Maximalismus drängen lassen, erübrigt sich jede weitere Diskussion über Essential der Regierungsbeteiligung.

Aber dieses Manöver der Konservativen kann ja auch schiefgehen. Nämlich dann, wenn es den Bündnisgrünen gelingt, diese beiden Positionen teils zu korrigieren, teils auf der Zeitachse richtig einzuordnen. In einer perspektivischen Betrachtungsweise ist die Auflösung der Nato beziehungsweise ihre Eingliederung in ein System kollektiver Sicherheit eine sinnvolle Alternative. Hieraus aber den Schluß zu ziehen, nichts gehe mit der Bundeswehr, ehe dieses Sicherheitssystem erbaut sei, ist der Musterfall einer falschen Konkretion. Richtig wäre die Forderung gewesen, die OSZE finanziell wie organisatorisch zu stärken. Aber solche berechtigten Projekte können nicht zu Essentials konzentriert werden.

Beim zweiten „Kainsmal“, das den Bündnisgrünen beigebracht werden soll, dem Benzinpreis von fünf Mark, ist die Dehnung auf der Zeitachse noch wichtiger. Auch hier eine falsche Konkretion, ein „Einstieg“, der nicht zum „Herankommen“ einlädt. Denn die berechtigte Forderung nach der ökologischen Steuerreform soll mit einem Schock erzwungen werden, einem Angriff auf tief verwurzelte Gerechtigkeitsvorstellungen, nach denen vor allem (nicht nur) der zahlen soll, der den je größten Schaden verursacht.

„Laissez payer les riches“ ist zwar eine populistische Parole, aber nicht durchweg falsch. Aber der zentrale Fehler der Bündnisgrünen besteht hier darin, eben keinen Einstieg zu bezeichnen, sondern den Endzustand. Die These, daß gerade hierdurch ein Denkanstoß gegeben, ein Diskussionsprozeß ausgelöst werden soll, ist hergeholt, manieriert, in der Praxis des Wahlkampfs zum Scheitern verurteilt und hat mit einem sinnvollen Essential nichts zu tun.

Daher das Plädoyer an die Bündnisgrünen, zusammen mit dem Wahlprogramm eine „Handreichung“ zu veröffentlichen, die uns klipp und klar sagt, wo die Schmerzgrenze liegt und was wir von Rot-Grün mindestens erwarten dürfen. Man antworte bitte nicht, Hauptforderungen des Wahlkampfs seien etwas anderes als Essentials in Verhandlungen mit den Sozialdemokraten. Das wäre nur dann richtig, wenn zwischen der Welt der Propaganda und der nachfolgenden Praxis eine eingeplante Kluft bestünde – für viele potentielle Wähler der Bündnisgrünen eine unerträgliche Vorstellung. Essentials, die für die SPD gerade noch erträglich sind, präzise Daten und Fristen dort, wo bei den Sozialdemokraten Nebel vorherrscht oder unverbindliche Absichtserklärungen – das ist keine allzu schwierige Aufgabe.

In meiner privaten Rechnung komme ich auf vier Essentials: ein energiepolitisches, ein energiesteuerliches, ein sozialpolitisches und ein demokratisches. Nähere Auskunft beim Verfasser Christian Semler

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