: Thronrede im Schloß verärgert Abgeordnete
■ Serie: Orte der Revolution (Folge 12): Die Nationalversammlung in der Singakademie
Das heutige Maxim Gorki Theater, die frühere Singakademie am Kastanienwäldchen hinter der Neuen Wache, war 1848 der Sitz der preußischen Nationalversammlung. Am 1. Mai 1848 wurden in ganz Preußen die Mitglieder dieses Parlaments gewählt.
Wahlberechtigt waren in Berlin 115.000 Männer, die 20 Jahre und älter waren. Sie wählten insgesamt 594 Wahlmänner, die ihrerseits für die Abgeordneten stimmten. Nach Schätzungen gaben 70 bis 80 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab.
Gewählt wurde ein Parlament, das ähnlich wie heute zu einem erheblichen Teil aus Staatsangestellten bestand. 47,1 Prozent der Abgeordneten waren Verwaltungs- oder Justizbeamte, Offziere, Lehrer und Hochschullehrer. Untere Klassen waren nicht vertreten. Gerade einmal 4,6 Prozent der 395 Abgeordneten waren Handwerksmeister. Noch bevor es zum ersten Mal zusammentrat, brüskierte der König das keineswegs radikale Parlament: Es durfte den Ort seines ersten Zusammentretens nicht selbst bestimmen.
„Die Regierung hatte bestimmt, daß die Deputierten im Weißen Saale des Königlichen Schlosses die Thronrede des Königs entgegennehmen sollten, indem sie die nicht vollendete Einrichtung des Sitzungssaales der Singakademie als Grund für diese auffallende Maßregel vorschützte“, berichtet Adolf Streckfuß. Weiter heißt es bei dem Teilnehmer der Märzrevolution: „Ein Teil der Abgeordneten fühlte sich durch diese Bestimmung verletzt. Es sei Sitte, so meinten sie, daß der König sich in den Sitzungssaal des Parlaments begebe. Der Würde einer konstituierenden Versammlung entspreche es nicht, wenn die Eröffnungssitzung in einem andern als dem gewöhnlichen Sitzungssaal stattfinde. Man beschloß auf Antrag des Abgeordneten von Berlin, des Herrn von Kirchmann, eine Deputation an den Ministerpräsidenten zu senden, um nach den Gründen der seltsamen Regel zu fragen.
Der Ministerpräsident erklärte, er könne durchaus in der getroffenen Anordnung nichts Bedenkliches sehen, zu ändern vermöge er sie überdies nicht, da sie vom König ausdrücklich gewünscht worden sei. Der unerquickliche Bescheid wurde der Versammlung überbracht. Sie erklärte mit Majorität, daß ein Protest gegen die unerwünschte Anordnung erlassen werden müsse. Die meisten der Protestierenden glaubten, hiermit die Würde der Nationalversammlung genügend gewahrt zu haben.
Nur einige wenige unter ihnen (...) weigerten sich, der Eröffnungssitzung im Weißen Saale beizuwohnen. Es war am 22. Mai, mittags gegen 12 Uhr, als etwa 300 Abgeordnete sich im Weißen Saale versammelten. Alle Minister waren in voller Uniform anwesend. Der König erschien, die Prinzen Karl, Albrecht, Wilhelm und Friedrich begleiteten ihn. Die Versammlung empfing ihn mit einem dreimaligen Lebehoch, dann nahm der König auf dem Thronsessel Platz, und mit bedecktem Haupt verlas er die Thronrede.“
Die preußische Nationalversammlung trat am 25. Mai in der Singakademie zu ihrer ersten Arbeitssitzung zusammen, später zog sie in das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt um. Dort tagte sie bis zum 9. November. An diesem Tag verfügte der König, daß das ungeliebte Parlament nach Brandenburg umziehen solle. Es protestierte. Doch am 10. November zog General Wrangel mit seinen Truppen in die Stadt ein und besetzte auch das Schauspielhaus.
Am 5. Dezember löste eine königliche Order die preußische Nationalversammlung auf. Jürgen Karwelat
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