: Aufstand in Europa!
Arbeiter, Bürger, Soldaten und Studenten gehen im März 1848 gegen Fürsten vor. Ihre demokratischen Ideale finden sich heute im Grundgesetz. Aber wo ist die Solidarität der ersten roten Demokraten geblieben? ■ Von Christian Semler
Wir sehen: einen der großen Tage der Revolution, einen Tag, an dem die Revolutionäre auf die Turmuhren schießen, um die Zeit anzuhalten. „Paris, 24. Februar 1848“ ist die oben abgebildete Lithographie untertitelt. Der Thronsaal Louis Philippes wird gestürmt, einige der Eindringlinge sind dabei, Kleinholz aus dem Thron des Bürgerkönigs zu machen. Auf der rechten Seite des Bildes beschäftigen sich weitere Aktivisten damit, die Purpurvorhänge herunterzureißen, die den Thron umgeben. Mit von der Partie: Arbeiter, Bürger, Soldaten, Studenten, Kinder. Frauen waren dabei, fehlen hier aber.
Wenig später entsteht in Wien eine ganz ähnliche Lithographie. Diesmal sehen wir die Massen im Thronsaal der Hofburg, der Staatskanzler Metternich, dargestellt als Bediensteter in Livree, wird von Kaiser Ferdinand, der kurze Zeit später ebenfalls abtritt, in die Wüste geschickt. Die Pointe der Darstellung: Niemand ist in Wirklichkeit in die Hofburg eingedrungen.
Diesen Ungleichzeitigkeiten zum Trotz – die Revolution von 1848 ist ein gesamteuropäisches Ereignis. Paris bildet die Vorhut, es dauert nur Tage und Wochen, bis die anderen europäischen Fürstenhöfe, erschreckt vom „Pöbel“ und überschwemmt von Forderungen und „Gravamina“, den Rückzug antreten, Verfassungen und Grundfreiheiten zustimmen. Aber die ursprüngliche Koalition, die „soziale Basis“ der Revolution, ist fragil. Bauern wollen von grundherrlichen Lasten befreit werden, Handwerker von der freien Konkurrenz, die Arbeiter von den arbeitsvernichtenden Maschinen, die Bürger von der allmächtigen absolutistischen Bürokratie. Im Frühsommer unterliegen in Paris die Unterklassen, im Herbst marschiert in ganz Europa die monarchistische Konterrevolution. Für Deutschland stellte sich heraus, daß die Strategie der linken Demokraten, mit den Monarchen Schluß zu machen und eine Verfassung nach dem Vorbild der USA auszuarbeiten, die einzig erfolgversprechende gewesen war. Aber gerade sie war in den bürgerlichen Schichten, die die Revolution führten, niemals mehrheitsfähig gewesen.
Die Folgen der Niederlage erwiesen sich als verheerend. Im bürgerlichen Lager obsiegte der nationale über den staatsbürgerlich-liberalen Flügel. Der Weg für Bismarcks militärisch-bürokratischen Obrigkeitsstaat wurde geebnet, die demokratischen Kräfte an den Rand der Gesellschaft gedrückt oder in die Emigration gezwungen. Mit den nationalen Befreiungsbewegungen machte man kurzen Prozeß. Die Idee einer gleichberechtigten Staatenföderation, wie sie beispielsweise das Parlament von Kremsier für die Kronländer der Habsburgermonarchie ausgearbeitet hatte, wurde vertan. 1848 lebte von der Vision einer europäischen Revolution. Die Arbeiterbewegung, Haupterbin des demokratischen Impulses, vermochte es niemals, an diese Vision anzuknüpfen.
In mehr als einer Hinsicht steht die Revolte der 68er in der Tradition der 48er. Der Völkerfrühling kam zu früh, die Studentenrevolte zu spät. 1848 sah erst die Anfänge des Proletariats, 1968 seine Schlußphase. Die frühe Arbeiterbewegung neigte zur Revolution, aber die Utopien, denen seine Führer anhingen, waren vorindustriell, rückwärtsgewandt, mit der großen Ausnahme des Kommunistischen Manifests. Die späte Arbeiterbewegung war über den Sozialstaat fest ins kapitalistische System integriert. Ihre Führer waren Anti-Utopisten. Die linken Ideen der betrieblichen Selbstverwaltung und des Rätesozialismus prallten von ihnen ab.
Beide Bewegungen lebten von ihrem internationalistischen Pathos. Die Demokraten des Jahres 1848, die „für unsere und Eure Freiheit“ stritten, scheiterten an der Übermacht der großen Militärdespotien und den nationalen Bourgeoisien, die auf ihre Seite übergingen. Der Internationalismus des Jahres 1968 wurde an der Blockteilung der Welt zuschanden. Die Studenten in Paris und Berlin fühlten sich mit denen in Warschau, Prag und Belgrad verbunden durch den Kampf gegen ein manipulatives und unterdrückerisches Institutionensystem. Beide traten für kollektive Selbsttätigkeit ein. Vielleicht wollten beide einen emanzipatorischen Sozialismus. Aber der 21. August 1968 verhinderte jede produktive Auseinandersetzung der Prä- mit den Postsozialisten. Beiden Bewegungen schien der historische Horizont weit geöffnet, in Wirklichkeit schloß er sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs. 1848, 1917–1921, 1968 – die drei einzigen genuin europäischen Bewegungen seit der großen Französischen Revolution.
Heute reklamiert der offizielle Liberalismus der Bundesrepublik die Revolution in Gestalt der Paulskirchen-Bewegung als Vorläufer. In der Tat wurzelt das Grundgesetz, vor allem der Grundrechtskatalog, in den Ideen der 48er Revolution. Damit ist ein fortwirkender Maßstab gegeben. Radikale Demokraten bevölkern heute – Erben der 68er – nicht nur die Randbezirke der europäischen Gesellschaften. Radikal-Liberale hingegen sind dünn gesät, aber sie erheben immerhin ihre Stimme, wie der Münchner Journalist Heribert Prantl bei uns, der späte 48er. Aber wo setzen sich die Ideen der „roten“ Demokraten fort, wo das „überschießende“ Element der bürgerlichen Revolution, wo die – ohnmächtige – Solidarität der Unterklassen, die 1848 die Barrikaden verteidigten? Bestimmt nicht bei den Vertretern der „Mehrheitsklasse“, die heute die Interessen der Jobinhaber auf europäischer Ebene verteidigen. Ein sehnsüchtiger Blick über den Rhein hin zu den Aktionen der Pariser Arbeitslosen sollte im Jubiläumsjahr von 1848 gestattet sein.
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