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Getreu der Linie der Deeskalation

Greenpeace befehligte den Einsatz der Polizei in Neckarwestheim, in Ahaus entwickelten einige Bürger marktwirtschaftliche Energie.

Im Dampfkraftwerk ist gerade das Licht angegangen. Polizeiketten flankieren das Pressecamp auf dem Parkplatz des angrenzenden Betonwerkes. Besonderer Bewachung unterliegen zwei Haufen runder Flußsteine aus dem Neckar. An vorderster Front in der Wagenkolonne, zwischen Wasserwerfern und Einsatzbussen, rollt ein dezent dunkler BMW aus Wiesbaden mit Blaulichtern auf dem Dach und vier Beamten der Bundeskriminalamtes (BKA). Plötzlich zieht das blaue Auto an die Spitze der Kolonne vor und stellt sich quer. Männer in gelben Overalls springen heraus, schwenken die Greenpeacefahne und ketten sich blitzschnell an der Achse ihres Wagens an. Das Publikum jubelt, Kameraleute rangeln mit Polizisten um die besten Plätze auf einem Kieshaufen. Die heben das neuerliche Hindernis samt Angeketteten schließlich zur Seite.

So schnell kann man sich mit ein bißchen Phantasie dem Castor in den Weg stellen, wenn man sich nur in die Köpfe von Polizisten versetzt: Wer von denen wird schon argwöhnisch, wenn man sich kurzerhand als Mann des Bundeskriminalamtes ausgibt.

Andere AKW-GegnerInnen hatten es da schwerer, zum Objekt ihres Protestes zu gelangen. Ein Konvoi mit rund 400 Leuten aus Lüchow-Dannenberg war am Donnerstag abend nach Ahaus aufgebrochen. Einen Sonderzug samt Autoanhänger für die berühmten Gorlebener Traktoren hatte die Bundesbahn verweigert. Dem einzigen Trecker, der schließlich auf einem Autoanhänger mitgenommen wurde, ließ die Polizei bei einer Straßenkontrolle die Luft aus den Reifen. Mit rabiateren Methoden sahen sich die Daheimgebliebenen im Büro der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg konfrontiert: Ihnen wurde das Telefonkabel durchgeschnitten, so daß längere Zeit kein Kontakt mit dem Konvoi möglich war.

Unterdessen zog das Aktionsbündnis Castor-Widerstand die Bilanz seiner Aktionen vor dem AKW Neckarwestheim: zwei Verletzte, Schürfwunden, blaue Flecken und am Ende eine doch rüde Räumung der Sitzblockade am Tor 2. Nebenan im engen Vereinsheim der Betonarbeiter lieferte die Polizei ihr Fazit: eine Verletzte. „Uns ist es gelungen“, so Polizeipräsident Erwin Hetger, die Linie der Deeskalation durchzuhalten.“ Die anwesenden JournalistInnen sahen das anders und beschwerten sich heftig über Absperrungen und massive Behinderungen.

Ernste strafrechtliche Konsequenzen kündigte Hetger den beiden Atomgegnern an, die seine Einsatzplanung am nachhaltigsten durcheinandergebracht hatten. Die beiden Männer hatten unter der Bundesstraße 27 zwischen Neckarwestheim und Walheim einen Tunnel gegraben und konnten erst nach Stunden von Polizeibeamten herausgezerrt werden. „Kriminelle Energie“ bescheinigte die Polizei den beiden ebenso wie den falschen BKA-Kollegen, deren Auto beschlagnahmt wurde.

Viel marktwirtschaftliche Energie entwickelten unterdessen einige Ahauser BürgerInnen. Ein Anwohner vermietete sein Haus unmittelbar an den Bahngleisen an den BGS. Der Inhaber einer Imbißstube hat Filialen in der ganzen Stadt und am Zwischenlager errichtet. Eine Bäckerei versüßt das Demonstrantenleben, indem sie Kirschtaschen mit dem Protest- Symbol X als Zuckerguß anbietet. Über die Einstellung der EinzelhändlerInnen zur Atomenergie sagt das noch nichts. „Solange das hier einigermaßen friedlich bleibt und mein Laden gut läuft, habe ich nichts gegen den Castor-Transport“, erklärte eine Geschäftsfrau.

Falsch kalkuliert hat hingegen ein Ahauser, der „zur Tarnung“ ein gelbes X, Symbol des Anti-Castor-Protestes, in seinen Garten gestellt hatte, damit „die Demonstranten wissen, daß sie hier nichts kaputt machen sollen“. Doch nun kann er sich eines freundschaftlichen Ansturms gar nicht mehr erwehren. „Ständig kommen Leute und wollen telefonieren oder Tee trinken.“ Heide Platen/Andrea Böhm

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