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„Titanic“, der mit 360 Millionen Mark Produktionskosten teuerste Film aller Zeiten, könnte auch bei der heutigen Oscar-Verleihung alle Rekorde brechen: Für 14 Auszeichnungen ist das Katastrophenepos nominiert. Weltweit hat „Titanic“ in wenigen Wochen schon zwei Milliarden Mark eingespielt. Auch in Deutschland ist der Streifen ein Publikumsrenner. „Titanic“ ist die prächtige Bebilderung des Untergangs einer Kultur. Die Wirkung des Films besteht darin, daß sich ganz einfache Gefühle mit einer umfassende politischen Metapher vereinen. Von Georg Seeßlen

Untergang als Auferstehung

So schwer es fällt, einen Medienerfolg vorauszuberechnen, so leicht ist es, ihn anschließend zu erklären. Als die Nachrichten von der 200-Millionen-Dollar-Produktion „Titanic“ zu fließen begannen, raunte man gern von einer möglichen finanziellen Katastrophe des Desaster-Love-Story-Films. So etwas wie Michael Ciminos „Heaven's Gate“ oder wenigstens der Costnersche Krampf von „Waterworld“ drohte sich zu wiederholen – die große Strafe für den Größenwahn der Traummaschine, ausgeführt von uns, dem Publikum, das schließlich und gefälligst das letzte Wort hat.

Daß es bei der „Titanic“ genau anders herum funktioniert hat, daß nämlich eine Superproduktion mit einem ziemlich durchschnittlichen Ergebnis mit einer ziemlich durchschnittlichen Werbekampagne zum „erfolgreichsten Film aller Zeiten“ wird, bringt uns unter anderem auf den unangenehmen Gedanken, dieses Katastrophenspiel, das sich so trefflich mit dem Thema des Films kongruent verhält, sei letzten Endes gar Teil der Inszenierung des Medienspektakels. Und offensichtlich gehört er zur Aura des Films, daß er nichts von Größenwahn, schon gar nichts von ästhetischer oder wenigstens technischer Grenzüberschreitung an sich hat. Der Film verbirgt seinen Reichtum nicht, stellt ihn aber auch nicht als Fortschritt aus. Und von wirklicher Perfektion ist auch die Verwendung der digitalen Technik noch weit entfernt.

Sieht man einmal von dem durchaus geschickten Cross-over zwischen Katastrophenfilm, Soap- opera und Tear-jerker ab, ist eine der Metabotschaften von „Titanic“ die Altmodischkeit. Es ist der Film, der beweist, daß der Angriff der coolen Postmodernen (Tarantino, Lynch, die Coen-Brüder), auf die Linerarität der Erzählzeit und die Uneindeutigkeit des Raums abgewehrt werden kann. Die Titanic sinkt, und Hollywood restauriert darin seine alten Erzähl- und Identifikationsstrategien. Wir haben es so gewollt.

Was also macht den Erfolg aus, abgesehen davon, daß es dem unbeschwerten Konsum einfach keinen Widerstand entgegensetzt? Es treibt gewiß die beiden heftigsten Zeitströmungen aufeinander zu: einerseits die Katastrophenphantasie, Millenniumsängste und die Todessehnsucht im Spätkapitalismus, der keinen Ausweg und keine Alternative mehr zu haben scheint; andererseits die Sehnsucht nach dem großen Gefühl, der unbedingten Liebe nach all den verlorenen Freiheitskämpfen, nach der emotionalen Regression.

Daß dabei etwas zusammenkommt, ja einander verstärkt, was noch vor nicht allzu langer Zeit eher als Widerspruch gedacht wurde, gehört zu den Grundvoraussetzungen des Mythos. Der Untergang wird erotisiert, und die Erotik mit dem melancholischen Gestus des Untergangs aufgewertet. Der Vergleich mit „Vom Winde verweht“ ist also gar nicht so weit hergeholt. Auch da ging es um die prächtige Bebilderung des Untergangs einer Kultur, die sich erfolgreich in einer Gesellschaft erwies, in der man ein ganz ähnliches Gefühl der Endzeit haben mußte. Auch in der Titanic geht eine längst untergegangene Gesellschaft stellvertretend für eine bürgerliche Gesellschaft noch einmal unter, die ihren Untergang zugleich fürchtet und ersehnt.

Das erscheint auf den ersten Blick ein wenig zuviel Gedankenschwurbel für einen Film, in den so viele Leute mehrmals gehen, einfach nur um hemmungslos heulen zu dürfen. Aber genau darin besteht die Wirkung des Films, daß sich ganz einfache, sentimentale Gefühle mit einer umfassenden politischen Metapher vereinen. Die Liebes- und Opfergeschichte zwischen dem jungen Proletarier und der Bürgerfrau ist vielleicht, wie Hans Magnus Enzensberger bemerkt, wirklich auch eine Art mediales Substitut für den Klassenkampf, den es ja in der Wirklichkeit nicht mehr geben darf.

Auf der Titanic, im Augenblick des Untergangs, werden wir nicht nur „gut“, wie es die Katastrophenphantasie und die entsprechenden Filme so lange schon phantasieren – wir werden auch richtig glücklich. Die Verlierer und die Gewinner des neoliberalen Kapitalismus träumen von einer erotischen Vereinigung: Die vom Oberdeck und die vom Zwischendeck lassen sich von den sozialen Grenzen nicht abhalten. Zur sozialen Wirklichkeit verhält sich „Titanic“ ungefähr so wie jene melodramatischen Theaterstücke der Wanderbühnen im Westen der USA zur Zeit der „Indianerkriege“. Nachdem man sich von der hundertsten Variation der Liebesgeschichte des Westerners mit der schönen Indianerprinzessin rühren ließ, ging man raus und killte ein paar Rothäute. Nachdem man über den Liebes- und Untergangstraum auf der Titanic geheult hat, geht man raus und schimpft auf das Pennerpack auf der Straße – eine Rettungsphantasie für eine Gesellschaft, in der man sich nicht mal mehr gegenseitig helfen mag.

Zum Wesen der Unterhaltung, so hat Henri Lefêbvre gesagt, gehört der möglichst radikale Bruch mit der äußeren Wirklichkeit. Insofern funktioniert der Film nicht anders als die große Inszenierung „Dianas Tod“ in den Medien. Die einzige Wahrheit darin ist der grenzenlose Bedarf an Emotionalisierung, die auf reale Weise nicht zu haben ist. Andererseits bemerkte Bert Brecht: „Die Unterhaltung mag zum Unterhalt gehören und doch in ihrer spezifischen Form den Unterhalt zugleich bedrohen.“ Die Frage ist also stets, wieviel Betäubung und wieviel Protest ein Film enthält. Auch „Titanic“ betäubt und protestiert zugleich, und während er gegen den Verlust der Liebe in den Zeiten des Neokapitalismus und gegen die soziale Ungerechtigkeit protestiert, betäubt er uns in seiner Sex- und Untergangsphantasie. Er ist zugleich reaktionär und politisch korrekt, die moralische Absolution für eine üble soziale Praxis und damit nicht schlechter oder besser als unsere gewohnten medialen Überlebensstrategien. Nur größer.

Natürlich gibt es noch andere, trivialere Gründe für den enormen Erfolg dieses Films. Ab einem gewissen Punkt wird ein Medienereignis zum Selbstläufer, der Erfolg potenziert sich ohne weiteres Zutun von selbst, wenn man das Gefühl hat, einer allgemeinen Veranstaltung nicht fernbleiben zu dürfen. Die Medienmultiplikation, Bücher, Ausstellungen, touristische Attraktionen, CDs, Internet- Chats, Poster und Modellbasteleien, tragen dazu bei.

Die Gefahr solcher Konsens- Produkte ist es, daß sie die kritische Geste in ihre Inszenierung miteinbezieht. Sie werden sozusagen auch von der anderen Seite her zum vollständigen Politikersatz, so als drücke sich eine Gesellschaft nicht mehr in ihrer Verfassung und ihren Gesetzen, in ihrer Herrschaft und in ihrer Ökonomie aus, sondern in ihren Medienereignissen. Auf dem Umweg über vollgeheulte Taschentücher verliert auch die kritische Reflexion zusehends ihren Gegenstand. Nicht Mitheulen oder Spielverderben ist hier die Frage, das Problem ist statt dessen die Auflösung eines ästhetischen Produkts im sozialen Ritual. Das Medienereignis erhält alle Anzeichen einer Religion (einschließlich ritueller Ketzerverbrennungen).

Auch die Liebesgeschichte in „Titanic“ ist eine merkwürdige Verknüpfung des Alten und des Neuen. Zwar ist, sozusagen mit Gewalt, die romantische Liebe wieder in ihr Recht gesetzt (einschließlich der Notwendigkeit, durch den dramatischen Abgang eines Partners alles schmerzhaft Triviale auszublenden), aber ihre Protagonisten haben durchaus zeitgenössische Wandlungen vollzogen. So oszillieren die Rollen des Weiblichen und des Männlichen; nicht zuletzt spukt ja auch so etwas wie eine Emanzipationsgeschichte im Arrangement. Das eher irdische Wesen ist die Frau, das eher engelhafte der Mann. Der Mann ist mehr Bild, und die Frau ist mehr Blick, als wir das gewohnt sind.

Schließlich befinden wir uns offensichtlich in einer generellen Nostalgiephase. Der Ozeandampfer entspricht nicht nur in seiner gesellschaftlichen Metaphorik, sondern auch als technisches Bild dem, was wir als „schön“ empfinden. Technik und Ästhetik sind noch eines – auch und gerade in ihrem sexuellen Symbolgehalt. Dieses Schiff ist der wahre Körper des Industriezeitalters. Es ist, auch im Drama des Untergangs, ein letzter Triumph des Sichtbaren in der Welt. Die Titanic geht daher nicht nur für unsere Sünden unter, nicht nur als Protest der Natur gegen den Fortschritt – und als nachvollziehbares Bild für die Unfähigkeit, ja Durchgeknalltheit der „Führung“. Sie geht nicht nur unter, weil sie den schönen Liebestod zum Superzeichen adelt. Sie geht auch unter, um einen neuerlichen sozialen Wandel zu begleiten, den Wandel von der Spaßgesellschaft zur Emotionsgesellschaft.

Die Mythen der Millenniumsgesellschaft reagieren auf den Verlust der natürlichen und sozialen Raumlosigkeit mit der Konstruktion medialer Ersatzräume. Und damit sind wir wieder bei der „altmodischen“ Machart des Films: Er rekonstruiert mit allen ihm zur Verfügung stehenden neuen Mitteln die alten Vorstellungen der Einheit von Person, Zeit und Raum. Wenn sein Schiff untergeht, wird der Mensch paradoxerweise wieder zum Subjekt seiner Geschichte.

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