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Drei Stunden Kußhändchen

■ Die Raä-Legende Cheikha Remitti begeisterte bei den „women in (e)motion“

Es schien, als wolle sie die Bühne gar nicht mehr verlassen. Fast drei Stunden lang reihte die 75jährige Kultsängerin Cheikha Remitti einen Song an den anderen und versetzte das Publikum im ausnehmend gut besuchten Schlachthof in einen relaxten orientalischen Groove. Auch ohne besondere Aufforderung füllte sich die Fläche vor der Bühne schnell. Kreisende Becken und wedelnde Arme bestimmten das Bild, und auch die Sitzengebliebenen wippten und schwenkten die Köpfe im einladenden Rhythmus des maghrebinischen Pop.

Bereits mit 13 Jahren, 1936, machte Remitti in Oran ihre erste Schallplattenaufnahme, wo sie sich schließlich auch ihren heutigen Ruf als Königin des Raä erwarb. Die westalgerische Stadt Oran gilt als Geburtsstätte des Raä. Ähnlich wie der frühe Jazz im Rotlichtbezirk von New Orleans oder der Tango in den Hafenkaschemmen von Buenos Aires, entstand der Raä in den Spelunken, Bars und Bordellen der Hafenstadt. Beduinische, spanische, französische, berberische und marokkanische Einflüsse verschmolzen zu einer urbanen, sinnlichen Unterhaltungsmusik.

In den späten 60ern nahm dieser ursprüngliche Raä Elemente der Rockmusik auf. Von den algerischen Immigranten nach Frankreich importiert, wurde er später auch in Europa bekannt. Anders als Superstar Khaled, der seinen Raä inzwischen mit Elementen aus Reggae, Soul und ein bißchen Jazz anreichert, ist Cheikha Remitti eine Vertreterin des puren Raä.

Mit gutturaler Stimme und den typisch orientalischen Melismen sang sie über unerfüllte Liebe, Ehebruch, Sehnsucht, aber auch die Freude am Leben und Lust am Ausgelassensein, die maghrebinische Variante von „Let's Party“. Dazu schufen zwei Perkussionisten auf Derbouka (Bechertrommel), Congas und Rahmentrommel sowie ein Schlagzeuger ein komplexes und pulsierendes Rhythmusgeflecht. Unterstützt von wuchtigen Baßläufen und – als einzigem Melodieinstrument – einem Keyboard. Der Keyboarder steuerte die raä-typischen Melodiesounds bei, wabernde Intros über einem vibrierenden Bordunton und bläserartige Akzentuierungen. Seit den 70ern ersetzt das Keyboard häufig Blasinstrumente, Geigen und Akkordeons, die im frühen Raä für die melodischen Akzente sorgten.

Cheikha Remitti fühlte sich bei ihrem Auftritt, übrigens der vorerst einzige in Deutschland, offensichtlich wohl und genoß die enthusiastische Publikumsresonanz. Immer wieder verfiel sie in kleine Tanzfiguren und überhäufte das Publikum mit Kußhändchen. Im Laufe des Auftritts wiederholten sich zwar einige melodische Wendungen, dennoch war das Konzert der beeindruckenden First Lady of Raä ein mitreißendes Erlebnis, das nicht nur die anwesenden Women im buntgemischten Publikum bewegte. Arnaud

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