■ Schnittplatz: Unser aller Christina
Es war ein „bewegender Abschied“, wie die Deutsche Presseagentur schreibt. Auch die Süddeutsche Zeitung, die ARD-„Tagesschau“ berichten länglich. Über den Abschied von „der 11jährigen Christina“, wie sie alle mitteilen. „Christina“ steht mit Doppelpunkt am Anfang jeder Überschrift überall. Das Mädchen war in der letzten Woche in Niedersachsen vergewaltigt und ermordet worden.
Wie weit es mit der Boulevardisierung der seriösen Medien schon ist, läßt sich daran ablesen, wie selbstverständlich inzwischen durchgängig allein der Vorname für jugendliche (meist weibliche) Verbrechens- (meist Vergewaltigungs-)opfer verwandt wird. Werden andere Opfer korrekt mit „ein 39jähriger Betriebswirt aus Vechta“ oder „die 30jährige Marion N.“ bezeichnet – für junge Vergewaltigungsopfer gilt solch Distanz nicht. Immer, wenn die TV-Magazine von Sat.1-„Blitz“ bis RTL-„Explosiv“ irgendwo eine Kinderleiche aus dem Polizeibericht fischen, geht es los. Gewalt, Sex, Verbrechen, Kinder (Mädchen!), das ist die Mixtur, aus der die unauslaßbare Gelegenheit zur kollektiven Abgrenzung erwächst – kein Film über Drogentod, Samenspende, Kreditbetrug hat das.
Und die angeblich seriösen Medien stehen dem Großeinsatz des Boulevards völlig hilflos gegenüber. Sie lassen sich Themen, Diktion und Tempo von Bild und „Blitz“ setzen – nur Ton und Aufmachung sind zurückhaltender.
Indem „eine 11jährige Schülerin aus Ramsloh“ zu „Christina“ gemacht wird, wird aus dem Individuum unser aller Christina. All die Kims, Nicoles, Jennifers und Janas sind zwar tot, werden dafür aber postmortal von einer ganzen, medial verknüpften Nation adoptiert. Die allfällige Verkitschung und die angemaßte Intimität, die vorgibt sich über ein Verbrechen an der Intimität zu empören, gegen die sich das Opfer nicht mehr wehren kann, wird auch Eltern, Nachbarn, Mitschüler nicht gegen deren Verbreiter aufbringen, so das Kalkül. Schließlich können sie vor der Kamera unser aller Eltern, Nachbarn, Mitschüler werden. Übrigens hatte „die kleine Christina“ einen „Kosenamen“: Nelly. Doch so nannten sie nur einige Zeitungen. Manche sind eben noch näher dran.lm
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen