: Kindestötung als Aufsatzthema
Wie ein Lehrer seiner 9. Klasse eine moralisch umstrittene Frage stellte, die jetzt eine ganze Stadt beschäftigt ■ Von Klaus-Peter Görlitzer
Frankfurt (taz) – Reinhard Koch ist Doktor der Philosophie, sein Geld verdient er als Lehrer am Burggymnasium in Altena, einer sauerländischen Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets. Im Deutschunterricht hat Oberstudienrat Koch es für angemessen gehalten, der Klasse 9 a die folgende Frage als dreistündiges Klausurthema zu stellen: „Sollte man schwerstbehinderte Kinder unmittelbar nach der Geburt schmerzfrei töten?“
Als einzige Argumentationsgrundlage gab der Pädagoge den 14- bis 15jährigen SchülerInnen Kopien aus einem Buch von Peter Singer und Helga Kuhse an die Hand. Die beiden australischen BioethikerInnen behaupten darin, „daß Neugeborenentötung mit einer stabilen, gutorganisierten menschlichen Gesellschaft sehr wohl vereinbar ist“. 15 von 25 Klassenarbeiten folgten Singers Suggestionen; wer nach Kochs Maßstäben gut argumentierte, bekam auch ein „gut“.
Die Erörterung findet inzwischen außerhalb des Burggymnasiums statt, überall in der Stadt wird die Arbeit diskutiert. Und nicht nur dort: Die Nachricht von dem Vorfall in Altena hat inzwischen auch die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Gabriele Behler (SPD) in Düsseldorf erreicht. Ihre Pressereferentin Susanne Zimmermann erklärte gegenüber der taz, die Themenformulierung der Klausur sei „nicht hinnehmbar“, weil sie „den Verdacht nähren könnte, man stelle Leben zur Disposition“. Daher werde die Schulaufsicht in Arnsberg nun „angehalten, den betreffenden Lehrer in dieser Hinsicht fachlich zu belehren und zu beraten“, heißt es weiter im Ministeriumsdeutsch. Disziplinarische Konsequenzen sind nicht vorgesehen. Der Auftrag aus Düsseldorf wird der Arnsberger Behörde nicht ganz leichtfallen. Schließlich hatte sie Anfang März „nach eingehender Prüfung des Vorganges“ noch festgestellt, daß die Erörterung des Singer- Textes „aus schulfachlicher Sicht nicht grundsätzlich zu beanstanden“ sei; „Grundwerte unserer Gesellschaft“ habe Lehrer Koch keineswegs in Frage gestellt, zumal er die Klassenarbeit nach eigenem Bekunden „in angemessener Form vor- und nachbereitet“ habe.
Koch hatte erklärt, er habe vor der Klausur mit der 9 a ausführlich das Thema „Abtreibung“ durchgenommen – ohne dabei auf Singer, Bioethik, Euthanasie und sozialpolitische Zusammenhänge ausführlich einzugehen.
Die öffentliche Diskussion um die im Dezember geschriebene Klausur begann Mitte März, nachdem der Kreisdechant und Priester Bernward Mezger sich schriftlich beim Leiter des Burggymnasiums über den „unerträglichen Skandal“ beschwert hatte. „Singers ethische Aussagen“, so Mezger, „knüpfen nahtlos an die nationalsozialistische Ideologie von der Notwendigkeit der Vernichtung ,lebensunwerten Lebens‘ an“, die Vermittlung des Lehrinhalts stehe „im klaren Widerspruch“ zu Grundgesetz und Erziehungsauftrag der Schulen. Dazu sagte Schulleiter Uwe Muhs nichts, informierte aber die Dienstaufsicht in Arnsberg – und bekundete sein „Befremden“ über das Vorgehen des Geistlichen.
Nachdem die beiden Lokalzeitungen Wind von der Geschichte bekommen und ungewohnt ausführlich darüber berichtet hatten, hagelte es LeserInnenbriefe. Die meisten lehnten die Thesen Singers und das Vorgehen des Deutschlehrers ab. „Unverantwortlich“ sei es, Singers Texte ohne Gegendarstellung im Deutschunterricht zu thematisieren, schrieben etwa die Eltern eines behinderten Mädchens.
Dagegen betonten die SchülerInnen der 9 a per LeserInnenbrief: „Auf keinen Fall fühlten wir uns bei diesem Thema überfordert.“ Koch sei „einer der engagiertesten Lehrer unserer Schule, der niemals versuchen würde, uns zu manipulieren“.
Die LehrerInnen des Burggymnasiums wollen sich öffentlich nicht detailliert äußern. Nach Einschätzung von Insidern liegt das weniger an Desinteresse als daran, daß sich die PädagogInnen im demokratischen Rechtsstaat an obrigkeitliche Vorgaben gebunden fühlen. Tatsächlich hat Oberstudiendirektor Muhs dem Oberstudienrat Koch verboten, sich zur Sache zu äußern. „Dienstrechtlich hat nur der Schulleiter ein Auskunftsrecht gegenüber der Öffentlichkeit“, belehrte Muhs die taz und fügte hinzu, er wolle gegenüber der Presse nicht mehr Stellung nehmen – sprach's und legte den Telefonhörer auf. Auch eine schriftliche Nachfrage der taz ließen Muhs, Koch und der Lehrerrat unbeantwortet.
„Die Reaktion des Burggymnasiums auf die Kritik war die Bildung einer Wagenburg“, wundert sich der Fraktionssprecher der Altenaer Bündnisgrünen, Oliver Held. Er kennt die Altenaer Penne von innen – vor einigen Jahren hat er dort sein Abi gebaut. „Daß aus dem 45köpfigen Kollegium nicht ein einziges kritisches Wort geäußert wurde“, so der Grüne, „macht die Sache zum Problem der ganzen Schule.“
Den Fall möchte er nun im Stadtparlament zum Thema machen. Bisher haben sich die KommunalpolitikerInnen in der Öffentlichkeit verhalten wie die LehrerInnen: sie schweigen beharrlich, obwohl das Burggymnasium ein städtisches ist.
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