: Die unsichtbaren Frauen
Die Frau, die uns mit festem Blick von den Plakaten einer in Großbritannien erfolgreichen Werbekampagne der privaten Rentenkasse „Scottish Widows“ ansieht, hält ihr Haar dezent und würdevoll mit einer Art schwarzem Schleier bedeckt. Darunter aber sieht man ihr schönes Gesicht mit dem selbstbewußten, geheimnisvollen Lächeln, das eher Verführung suggeriert als Trauer. Ihr Alter ist unbestimmt, sie könnte 40 sein oder 45. Kein bißchen unbestimmt ist, was sie über die Zukunft denkt. Das Geld, das ihr „Scottish Widows“ ausgezahlt hat, wird sie nicht für ein Leben in Zurückgezogenheit und Trauer ausgeben, sondern für das, was ihr Spaß macht.
Eine solche Werbung kann nur im Westen funktionieren – und selbst hier haben die unterschwelligen Botschaften von Wohlstand und Sinnlichkeit mit dem wirklichen Leben der meisten Witwen wenig zu tun. In der Dritten Welt würde diese Werbung schlicht keiner verstehen. Denn dort bedeutet Witwenschaft fast ausnahmslos, ein Leben ertragen zu müssen, das von Vernachlässigung, Diskriminierung und Verfolgung geprägt ist. In jedem Fall aber ist eine Witwe dort einsam, sozial isoliert und arm.
Auch bei uns bedeutet der Tod des Mannes für eine Frau nicht selten, daß sowohl ihr Einkommen als auch ihr sozialer Status dramatisch sinken. Aber immerhin gibt es keine legale oder institutionalisierte Diskriminierung mehr. In der Dritten Welt jedoch kann eine Frau durch den Tod ihres Mannes alles verlieren – und der tiefe Graben, der ohnehin zwischen den Frauen des Westens und denen der Dritten Welt verläuft, wird zu einem Abgrund. Kulturelle Normen und Tabus, traditionelle Bräuche, staatliches Erbrecht und vor allem Aids machen die Witwenschaft dieser Frauen zu einem Alptraum. Und im Gegensatz zu der lächelnden schottischen Witwe sind die Witwen der Dritten Welt heutzutage extrem jung, manchmal noch Teenager.
Was alle Witwen miteinander verbindet, ist, daß sie gegenüber Witwern überall in der Mehrzahl sind. Fast jede verheiratete Frau wird am Ende Witwe. In Großbritannien wies die Volkszählung von 1990 43 Prozent aller Frauen über 65 als Witwen aus. Für einige Teile der Dritten Welt geht man gar von 70 Prozent aus – genaue Zahlen sind allerdings schwer zu bekommen. Witwen werden oft gar nicht erfaßt, besonders die älteren nicht, die in der Verwandtschaft herumgereicht werden.
In Zimbabwe kommen auf 100 verwitwete Personen 12 Männer und 88 Frauen. Männer tendieren anders als Frauen zur Wiederverheiratung. Nach dem großen Erdbeben im nordindischen Maharashtra von 1988 waren 80 Prozent der Männer, die ihre Frauen verloren hatten, bereits nach zwei Monaten wieder verheiratet.
Dennoch werden Frauen als Witwen sowohl von der Frauenbewegung als auch von den internationalen Hilfsorganisationen merkwürdig vernachlässigt. Die westliche Fachliteratur über Entwicklung, Armut, Geschlechtsspezifik und Menschenrechte hat zum Thema Witwen fast gar nichts zu sagen. Selbst in den Untersuchungen zu Gewalt gegen Frauen bleibt die spezifische Gewalt, der Witwen ausgeliefert sind, unerwähnt. Eine Mischung aus Ignoranz der Arbeit der NGOs mit den Frauen Afrikas und des Nahen Ostens und einer bestimmten Zurückhaltung, sich in den als privat verstandenen Bereich der Trauer einzumischen, erzeugte so eine Art Zensur durch Schweigen.
Weder das Protokoll der Regierungen zur Vierten Weltfrauenkonferenz von 1995 noch die Global Platform for Action erwähnen das Problem der Witwen; und selbst die „Wiener Erklärung“ und das „Aktionsprogramm für Menschenrechte“ von 1994 gehen über die allgemeine Verpflichtung, „die Menschenrechte von Frauen und Mädchen ... (als) unveräußerlichen und unteilbaren Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte“ anzuerkennen, nicht hinaus.
In vielen Teilen der Erde ist die Entscheidungsmacht der Männer über das Leben von Frauen noch immer absolut, und besonders die Rechte von Witwen, wenn man hier überhaupt von „Rechten“ sprechen kann, werden ständig und ungerührt verletzt. Als ob ihr untergeordneter Status noch bekräftigt werden müßte, werden Witwen in Bangladesch und Indien oft als rand, randi oder raki bezeichnet: Prostituierte und Huren.
Im Westen gibt es viele bewegende Berichte über die Einsamkeit des Lebens als Witwe und den gesellschaftlichen Ausschluß, mit dem Frauen nach dem Tod ihrer Männer leben müssen. Doch hier gibt es auch zunehmend Selbsthilfegruppen, vor allem einflußreiche Organisationen älterer Menschen, die ihren Mitgliedern bei Renten-, Wohnungs- und psychischen Problemen zur Seite stehen. Dennoch leben nach Angaben der Amerikanischen Association of Retired People (AARP) 21 Prozent der verwitweten Frauen in den USA (11 Millionen im Vergleich zu 2 Millionen verwitweter Männer) in „Armut“, das heißt, ihr Jahreseinkommen liegt unter 6.000 US-Dollar. Europäische Studien zeigen, daß alte Menschen zu den Ärmsten in den Gesellschaften der Europäischen Union gehören, am untersten Ende der Skala sind die Frauen zu finden.
Verläßt man jedoch die sichere Enklave der entwickelten Welt, nimmt Witwenschaft noch wesentlich bedrohlichere Formen an. Zunächst beginnt hier das Witwendasein schon sehr viel früher. In vielen afrikanischen Ländern sind 70 Prozent der jungen Frauen bereits mit 19 Jahren verheiratet, das durchschnittliche Heiratsalter indischer Mädchen liegt nur wenig über 14 Jahre. Und obwohl die meisten Länder Kinderehen inzwischen verbieten, wird an der Tradition festgehalten, Kleinkinder und sogar Ungeborene miteinander zu verloben, wodurch man den Status der Bräute als Jungfrauen zu garantieren versucht – und davon ausgeht, daß je jünger die Frau ist, desto größere Chancen bestehen, daß sie auch einen Sohn gebärt.
Im Iran haben die Revolutionsführer die Uhren erfolgreich zurückgestellt; nach dem Abgang des Schahs wurden Gesetze verabschiedet, die das heiratsfähige Alter für Mädchen von 18 auf 13 Jahre heruntersetzten. Man findet dort heute Frauen, deren Leben aus einer Folge von Verwitwungen besteht.
Margaret Owen, deren Buch „A World of Widows“ (Zed Books, London 1996) sich detailliert mit der Dritten Welt befaßt, berichtet darin beispielsweise über Lakshmi, eine ältere Hindu-Witwe aus Bangladesch, die mit 10 Jahren verheiratet wurde, mit 12 Witwe war und danach durch Hindu-Gesetz an einer Wiederverheiratung gehindert wurde. Als junge Witwe lebte sie zunächst bei der Mutter ihres Mannes, die selbst bereits als 14jährige Witwe geworden war. Später zog Lakshmis verwitwete Mutter zu ihnen, und Lakshmi arbeitete als Dienerin, um sich und die beiden Frauen zu ernähren. Seit dem Tod der beiden lebt sie allein, geht betteln oder ernährt sich von Reiskörnern, die sie auf der Straße findet.
Die meisten Studien über Witwen in Afrika und Asien befassen sich mit dem Erbrecht und der umstrittenen Tradion der Leviratsehe, die eine verwitwete Frau zwingt, den Bruder ihres verstorbenen Mannes zu heiraten. Bei diesem Thema geraten westliche Begriffe von Frauenrechten und traditionelle Praktiken der Dritten Welt in Widerspruch: Nach traditioneller Auffassung gewährt die Leviratsehe der Witwe und ihren Kindern die dringend notwendige ökonomische Sicherheit, während moderne Auffassungen darin eine ungeheuerliche Entmündigung der Frau sehen. Viele Frauen, die eine Ehe mit dem Schwager verweigerten, verloren daraufhin alles an die Schwagerfamilie: Wohnung und Kinder, Hausrat und Land.
In Indien wurde der sati-Brauch, d.h. die Verbrennung der Witwe zusammen mit ihrem verstorbenen Mann – die „30.000 Jahre Paradies, soviele Jahre, wie der Mann Haare auf dem Körper hat“ verspricht –, bereits vor über 100 Jahren verboten; dennoch hört man auch heute noch von Fällen der Witwenverbrennung.
Der Tod ihrer Männer bedeutet für die Frauen Asiens und Afrikas vor allem sofortige und vernichtende Armut. Außerdem fallen sie als Witwen unter diskriminierende Gesetze, sowohl moderne als auch traditionelle und religiöse. So kann nach den „Säuberungs“-Ritualen – die vom totalen Scheren der Haare, um den Geist des Verstorbenen zu exzorzieren, über den Zwang zum Geschlechtsverkehr mit einem Verwandten bis zur „Entsexualisierung“ durch Abgabe des Schmucks und aller bunten Kleidung reichen – der Prozeß der Enteignung durch die Schwagerfamilie beginnen. Ohne gesetzlichen Schutz, sehen sich diese Witwen häufig zu Sklavenarbeiten verurteilt oder zur Prostitution gezwungen.
Selbst dort, wo das Gesetz einen minimalen Schutz gewährt, hindert ihr Analphabetismus die Frauen häufig daran, etwa das Geschäft ihres Mannes zu übernehmen. Und ihre Machtlosigkeit macht sie besonders wehrlos gegenüber habgierigen Verwandten. Wo die Tradition des Levirats früher noch eine gewisse Sicherheit durch die moralischen Fürsorgepflicht der Schwagerfamilie bedeutete, haben der Zusammenbruch der sozialen Strukturen und die zunehmende Urbanisierung auch diese Schutzfunktion verdrängt. In einigen Regionen Indiens und Bangladeschs ist chasing off (Wegjagen) und grabbing property (Eigentum an sich reißen) bei Erbstreitigkeiten so verbreitet, daß die englischen Begriffe in die regionalen Sprachen eingedrungen sind. In Malawi wurde diese Praxis so alltäglich, daß entsprechende Rechtsreformvorschläge von „Raubzügen der Blutsverwandten des Verstorbenen“ sprechen. „Wie“, fragte beispielsweise unlängst ein kenianischer Anwalt, „kann es angehen, daß ein Teil der beweglichen Habe die bewegliche Habe erbt?“
Den Kindern von Witwen ergeht es nicht viel besser. Ihre Zukunft spiegelt den Status der Mutter: Entweder werden sie im Haus der väterlichen Familie als Diener gehalten oder aus der Schule genommen und zur Arbeit geschickt. In den Teppichfabriken des Nahen Ostens, unter Straßenkindern und Kinderprostituierten sind vor allem Mädchen zu finden.
Die endlosen Kriege und Bürgerkriege in Asien, Lateinamerika und Afrika haben in den letzten Jahren die Zahl der Witwen weltweit anwachsen lassen – und deren Probleme verschärft. 1991 soll es allein in Uganda 200.000 Kriegswitwen gegeben haben, und auf den Straßen von Kabul betteln inzwischen 30.000 afghanische Kriegswitwen, denen die fundamentalistischen Taliban jede Erwerbsarbeit verbieten. In Kambodscha, wo in den Jahren des Pol- Pot-Regimes mehr Männer als Frauen umgebracht wurden, begehen mehr Männer als je zuvor Gewalttaten gegen ihre Frauen – eine Ehefrau ist dort leicht zu ersetzen.
Über 80 Prozent aller – auf insgesamt 50 Millionen geschätzten – Flüchtlinge weltweit sind Frauen und Kinder. Von ihren Männern getrennte Frauen oder Witwen müssen plötzlich und völlig unvorbereitet als Haushaltsvorstand agieren, Entscheidungen treffen und sich mit den Behörden herumschlagen. Auf der Flucht leben sie zudem in ständiger Furcht vor Diebstahl, Vergewaltigung und Erpressung. An Schrecklichkeit kaum zu übertreffen sind die Geschichten der somalischen Frauen, die vor den Warlords ihres Landes nach Kenia flohen. So überquerte 1990 die damals 33jährige Somalin Julia zusammen mit ihrem Mann die Grenze nach Kenia. Sie wurden von Banditen angegriffen, Julia wurde von allen Bandenmitgliedern vergewaltigt und ihr Gesicht mit Messerschnitten verunstaltet. Ihren Mann zwang man zum Zusehen und brachte ihn dann um, Julia hielt man für tot und ließ sie einfach liegen. Andere Flüchtlinge fanden sie und brachten sie in ein Krankenhaus, wo Ärzte später feststellten, daß sie schwanger war – und HIV-positiv. Sie brachte das Kind zur Welt, ließ es in einer Latrine zurück und nahm sich das Leben.
Im vom Militär beherrschten Guatemala sind Repression und Terror seit langem Alltag, und das Justizwesen ist durch Korruption und Unterwanderung lahmgelegt. Es heißt, es gebe dort „keine politischen Gefangen mehr – nur noch Leichen und Verschwundene“. Die meisten von ihnen sind Männer. Das „Verschwinden“ ihrer Männer ist besonders schrecklich für die Frauen. Entführungen und Verhöre unter Folter werden von Militär, Polizei und Freiwilligenbanden durchgeführt; Zeugen dieser Grausamkeiten können nicht sprechen, ohne zu riskieren, selbst Opfer zu werden. Die Folgen sind Schweigen und Selbstzensur.
Judith Zur hat zwei Jahre lang mit Kriegswitwen von El Quiche, im nordwestlichen Hochland von Guatemala, gearbeitet. „La Violenca“ begann in den späten siebziger Jahren, als das Militär meinte, den Staat gegen „feindliche Kräfte und Ideen“ schützen zu müssen – tatsächlich war damit die indianische Bevölkerung gemeint. Zunächst waren die Opfer sogenannte Guerilleros, doch bald waren alle Indios als „potentiell gefährliche“ Zivilisten eingestuft. Zwischen 1981 und 1983 „verschwanden“ 15.000 Menschen, vor allem Männer, und die Frauen blieben stumm vor Angst alleine zurück.
El Quiche gehört zu den am schlimmsten von der Militärgewalt betroffenen Regionen. In manchen Dörfern „verschwand“ die Hälfte der Bevölkerung. Die verstümmelten Leichen, die später am Straßenrand auftauchten, konnten von den Frauen selten identifiziert werden. So blieben sie unsicher, ob ihre Männer nicht doch noch lebten, konnten nicht trauern, waren zu entsetzt und eingeschüchtert, um auszusagen, fühlten sich deshalb wie Mordkomplizinnen und empfanden ihr Leben als sinnlos.
Zum Entsetzen über die Morde kam die Angst vor den Vergewaltigungen. Judith Zur berichtet, daß man heute kaum noch ein Mädchen über 11 Jahren findet, das nicht vergewaltigt wurde. Und das „Verschwinden“ geht weiter; viele werden Opfer aufgrund ihrer Rolle als Anführer der indigenen Bewegungen. Der erste Mann von Rosa Pu, einer jungen Guatemaltekin, „verschwand“ 1981. Um seine Spur aufzunehmen, begann sie, für die Witwen-Organisation CONAVIGUA zu arbeiten. Schon bald wurde sie selbst bedroht. Sie heiratete ein zweites Mal, den Vorsitzenden des National Council of Disappeared People of Guatemala, Luis Miguel Solis Pajarito, und brachte ihr gemeinsames Kind zur Welt. Dann „verschwand“ auch er.
In einem Gedicht schrieb sie: „Sie haben geglaubt, daß sie / durch seine Entführung gewonnen / und ihn geschlagen hätten. / Aber so war es nicht. / Er hat gesiegt. / Wie er sie geschlagen hat? / Er gab Leib und Leben für das Volk. / Sie haben geglaubt, daß sie / durch seine Entführung / die anderen zum Schweigen bringen. / Aber so war es nicht. / Immer mehr Stimmen erheben sich und sprechen...“
Kaum etwas hatte jedoch schlimmere Folgen für Witwen als Aids. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation waren 1994 über 18 Millionen Männer und Frauen und eine Million Kinder infiziert, für das Jahr 2000 rechnet man mit insgesamt 40 Millionen.
Aids hat eine neue Generation von Witwen geschaffen: Sie sind meist selbst infiziert, bringen infizierte Babys zur Welt und sterben sehr viel schneller als Männer, da sie in aller Regel überarbeitet, schlechter ernährt und sehr arm sind.
Der größte Teil der Aidsarbeit in der Dritten Welt wird in Uganda geleistet, das nicht nur am stärksten von der Krankheit betroffen ist, sondern auch am offensten mit ihr umgeht. 1994 waren etwa 10 Prozent der Bevölkerung – etwa 1,5 Millionen Menschen – HIV-positiv. In anderen afrikanischen Ländern haben gerade die Tabuisierung und das Schweigen über Aids die durch den Aidstod ihrer Männer verwitweten Frauen besonders wehrlos gemacht. Da vorausgesetzt wird, daß sie als Witwen keine neuen Beziehungen eingehen, sind sie von jeder Gesundheitsfürsorge, die sie vor Ansteckung und Schwangerschaften schützen könnte, ausgeschlossen. Familienplanungsgruppen in mehreren Entwicklungsländern schließen verwitwete und alleinstehende Frauen prinzipiell aus. Margaret Owen berichtet, daß ein Mitglied der kenianischen Vereinigung zur Familenplanung sie erstaunt ansah, als sie ihn fragte, ob es einen Service für Witwen gäbe: Witwen wurden dort als potentielle Klientinnen erst gar nicht in Betracht gezogen.
In Gesellschaften, in denen man oft den Frauen die Schuld an der Krankheit ihres Mannes gibt, wird die zunehmende Schwäche eines an Aids sterbenden Mannes der Vernachlässigung durch die Ehefrau zugeschrieben. Nach seinem Tod wird sie nicht selten aus dem Dorf gejagt. Die in vielen Teilen Afrikas und des Nahen Ostens herrschende Promiskuität trägt zur Verbreitung des Virus bei. Ältere Witwen, die damit gerechnet hatten, an ihrem Lebensabend von ihren Söhnen versorgt zu werden, müssen sich statt dessen um verwaiste Enkel oder gar Urenkel kümmern, die häufig ebenfalls infiziert sind. Die weite Verbreitung von Aids hat auch zur Zunahme von Kindsbräuten geführt, da Männer dadurch sicher gehen wollen, keine HIV-infizierte Frau zu heiraten. Man findet daher viele Frauen, die, noch keine 30 Jahre alt, bereits zweimal durch Aids Witwe wurden, selbst infiziert sind und ihre ebenfalls infizierten Kinder alleine aufziehen müssen.
So schrecklich das alles auch ist, meint Margaret Owen, könnte paradoxerweise gerade die Verbreitung von Aids die einzig mögliche Lösung für das unglückliche Leben der Witwen in der Dritten Welt unterstützen helfen. Wenn deren Leben ökonomisch gesichert würde, so ihre Argumentation, hätten sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben. Deshalb hat Owen die Organisation Empowering Widows in Development ins Leben gerufen; deren Aufgabe besteht darin, Sammelpunkt und Informationsstelle besonders für Forschungsarbeiten in der Dritten Welt selbst zu sein. Im Westen fand dieses Projekt bisher allerdings wenig Interesse oder Unterstützungsbereitschaft.
Auch die Gründung mehrerer Selbsthilfegruppen in Afrika und Asien verdankt sich dieser Einsicht in die Notwendigkeit ökonomischer Unabhängigkeit. Nach dem Muster der Organisation „Frauen gegen die Mafia“ in Palermo arbeitet die ugandische TASO (Unterstützungsorganisation für Aidskranke und ihre Familien), die 1987 von Noerine Kaleeba gegründet wurde, deren Mann durch eine infizierte Blutkonserve an Aids gestorben war. TASO-Mitglieder waren vor allem Aids- Witwen sowie erkrankte Männer und ihre Frauen. Heute ist die Organisation eine höchst effizient arbeitende NGO, die Beratung und ambulante Hilfe anbietet. Von den 16 Gründungsmitgliedern ist nur noch Noerine am Leben.
In Kenia wurde 1991 die kenianische „Gesellschaft für Witwen und Waisen“ gegründet, um betroffenen Frauen zu helfen, die, wie die Gründerin Hilda Orimba meint, inzwischen die Hälfte der weiblichen Bevölkerung des Landes ausmachen: Witwen, die sich bemühen, ihr Land weiterzubestellen, ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen und Forderungen habgieriger Verwandter zurückzuweisen.
In Bangladesch entstand ein Projekt, das verarmten Witwen anbietet, sich an einer profitorientierten Fischfarm zu beteiligen. Als Mitbesitzerinnen tragen die Frauen durch ihre Arbeit zum Unternehmen bei, beispielsweise durch das Ausheben von Fischteichen auf Feldern, die von reicheren Dorfbewohnern zur Verfügung gestellt wurden. Auch in anderen Ländern unterstützen neue Organisationen Frauen, die der Krieg zu Witwen gemacht hat. Beispielsweise die beeindruckende AVEGA (Witwen des Völkermords) in Ruanda. Eine ihrer Gründerinnen verlor im ruandischen Völkermord 31 Angehörige.
Was Margaret Owen bei ihren Forschungsreisen besonders auffiel, war der hohe Anteil von Frauen, die nach ihren Erfahrungen mit despotischen Ehemännern auf keinen Fall noch einmal heiraten wollten. In Interviews sagten sie, sie fürchteten um das Wohl ihrer Kinder, hätten Angst vor Aids und wollten nicht riskieren, das Bißchen, das sie zwischenzeitlich zusammengekratzt hatten, wieder zu verlieren. Nur wenige konnten sich überhaupt vorstellen, daß es vielleicht auch Aussichten auf eine gute Ehe gäbe. Aufgrund der weltweit geltenden neuen Gesetze und Abkommen dürfte es keinen Grund mehr geben, warum ihnen diese Freiheit der Entscheidung versagt werden sollte. Nur gibt es leider – bei allen UN-Erklärungen guten Willens – keine Sanktionen für die Verletzung der Frauenkonvention.
Ein viel wichtigerer Grund dafür, daß die Situation der Witwen international so bedrohlich ist, besteht in der Tatsache, daß sie als Flüchtlinge im eigenen Land in der Regel durch die Maschen des Versorgungsnetzes rutschen. Niemand kümmert sich offiziell oder speziell um ihre Belange – weder Gesundheitsprogramme oder Frauenbewegungen, noch Regierungen oder Aids-Hilfeprojekte.
Selbst im Zeitalter eines täglich wachsenden Spektrums von NGOs und internationalen Hilfsorganisationen und trotz eines höchst entwickelten Bewußtseins für noch jede einzelne Facette des menschlichen Lebens, bleiben Witwen unsichtbar. Wahrscheinlich haben sie keine andere Wahl, als sich selbst zu helfen und, wie Christina Obbo, die in Kenia und Uganda gearbeitet hat, meint, „einfallsreich, findig und hart“ zu werden.
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