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Jeder guckt von jedem ab

Wenn der Wald zum Spielplatz wird: Mit originellen Konzepten werben Hamburger Kindertagesstätten um ihre Kundschaft  ■ Von Kaija Kutter

Im Eißendorfer Forst steht ein blaues Klohäuschen. Und direkt daneben ein alter Bauwagen. Svenja (3) und Aurel (3) singen und hüpfen aufregt umher. Ihre Erzieherin kleidet sie in Regenzeug und Gummistiefel. Dann geht's raus, ab in den Wald. Schnell flitzen sie den Hang hinunter, bis zur kleinen Betonröhre, aus der ein dünnes Rinnsal sickert. Wasser! Die Kinder matschen, sammeln Blätter, springen hinein. Die Betreuerinnen gucken geduldig zu.

Sie wissen, so schnell bekommen sie die Kinder hier nicht wieder weg. Dabei hat ihr täglicher Trip durch den Wald noch vieles zu bieten. Auf einer Lichtung wird ein liegendes Baumskelett zur Eisenbahn erklärt. Andere Kinder kochen zwischen zwei Baumstämmen. Das Moos wird zur Petersilie, die braunen Blätter zum „Salat“, die abgeschälte Borkenrinde ist das „Feuer“. Ausgerüstet mit Handy, Iso-Sitzkissen und Regenplane harren die Pädagoginnen Hannelore Draheim und Ivone Behrens hier sogar bei zehn Grad Minus mit ihren Schützlingen aus. Das härtet ab. Außer einem leichten Schnupfen hätten die acht Kinder noch nie etwas gehabt.

Was schwer vorstellbar ist: Dieses aus Dänemark importierte pädagogische Konzept, das den Kindern die Natur nahebringt, Kreativität und Bewegung fördert, leidet an mangelnder Beteiligung. Als der Waldkindergarten Harburg unter Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt vorigen Herbst startete, waren die meisten Dreijährigen schon in anderen Kitas angemeldet. Nun hofft Hannelore Draheim auf die nächsten beiden Jahrgänge. Das Blockhaus mit Grasdach, das ab Sommer den Bauwagen ersetzen soll, ist für 40 Kinder konzipiert. Eltern, die Interesse haben, müssen Mittwoch mittags vorbeikommen oder zwischen acht und neun Uhr morgens anrufen. Danach ist das Handy abgestellt, um Batterien zu schonen.

Etwas routinierter präsentiert sich der Bewegungskindergarten des „Sport-Clubs Ottensen“. Besucher bekommen hier zunächst keine Kinder, sondern einen Film zu sehen. „Lauf Jenny, lauf“erzählt die Geschichte des ersten staatlich anerkannten Bewegungskindergartens, der 1987 aus einer ABM-Initiative hervorging, inzwischen zwei Preise gewonnen und viele Nachahmer gefunden hat. Bewegungskindergartenkinder – 20 sind es, darunter vier Behinderte – gehen zweimal die Woche schwimmen, haben einmal die Woche Psychomotorik, dürfen auf Rollbrettern durch die Turnhalle der benachbarten Schule schlittern, lernen Judo und haben vor allem jede Menge Platz. Allein der Toberaum, mit Matten und riesiegen Schaumstoffklötzen ausgefüllt, hat 70 Quadratmeter.

Daß Kinder einen Ausgleich für ihre bewegungsfeindliche Umwelt brauchen, hat sich herumgesprochen; „Bewegungsräume“sind inzwischen ein Muß in jeder guten Kita. Aber nicht alle Kinder wollen immer nur toben. Und manche Eltern stören sich daran, wenn gar nicht mehr gebastelt wird. In einem großen Teil der rund 700 Hamburger Einrichtungen wird derzeit eine Umstrukturierung vollzogen, die man als Königsweg zwischen beiden Extremen bezeichnen könnte: die „Offene Arbeit“.

Das Konzept klingt radikal. Die Gruppen werden aufgelöst, die Kinder dürfen sich ihren Interessen gemäß frei im Haus bewegen. So verabschiedete man sich beispielsweise in der Wilhelmsburger Kita „Tigerente“vergangenen August von der roten, blauen und gelben Gruppe. Statt dessen gibt es einen Leseraum, einen Ruhe- und Sinnesraum, einen Toberaum, ein Puppenspielraum und ein Bastelatelier für alle 66 Kinder zusammen.

„Früher waren ein, zwei Erzieher allein zuständig für 20 Kinder“, erklärt Leiter Peter Maaß. „Wenn die für Montag morgen Maikäferbasteln planen, Marc und Kevin aber lieber Power-Ranger spielen wollen, dann führt das zu erheblicher Unruhe im Raum.“Jetzt können die Tobekinder zu den Tobekindern und die Bastelfreunde zu anderen Tüftlern finden. Die Betreuer ordnen sich ebenfalls den Interessenzonen zu.

Fazit fast aller Kitas, die offen arbeiten: Die Atmosphäre ist entspannter, es kommt zu weniger Aggression, weil die Kinder nicht gezwungen werden, in einem Raum zu bleiben und zu tun, was sie gar nicht wollen. Aber es werden auch Fehler gemacht. „Wir haben das Bedürfnis nach Geborgenheit unterschätzt“, sagt Peter Maaß. Deshalb treffen sich die Kinder der „Tigerente“wieder einmal wöchentlich in der Stammgruppe. „Es gibt Kinder, die überfordert sind“, sagt auch Margit Oulad von der Eimsbüttler Kita Lerchenstraße. Dort finden die Kinder sogar täglich zum Morgenkreis und zum Mittagessen in der alten Gruppe zusammen. Auch ist jedes Kind einer Erzieherin zugeordnet.

Und trotzdem, gerade bei Eltern, die entscheiden müssen, wohin sie ihr Kind geben, besteht Unsicherheit gegenüber so vielem Neuen. Was, wenn das eigene Kind nun doch im Gewusel untergeht? Wäre dann nicht doch der möglichst traditionelle Kindergarten das Richtige, von denen manche sogar mit ihrer Strenge werben? Oder der Waldkindergarten, wie es ihn auch in Bergedorf, Karlshöhe und Pinneberg gibt? Oder die Bewegungskitas, die übrigens jetzt auch ein, zwei Waldtage einlegen? Jeder guckt von jedem ab, alle Konzepte mischen sich.

Seit es den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gibt und Hamburg für 95 Prozent aller Kinder einen Platz bereithält, haben Eltern die „Qual der Wahl“, sagt Gabriele Müller von der Heimaufsicht der Jugendbehörde. Sie könnten sich die Einrichtung aussuchen. Zwar gebe es „regionale Unterschiede“, doch sei es im Prinzip auch kein Problem, einen Ganztagsplatz zu bekommen. Und da man Eltern nicht zwingen kann, ihre Kinder betreuen zu lassen, werden mancherorts „die Kinder knapp“. Wenn kleine Träger ihre Plätze nicht besetzt kriegen, müssen sie Gruppen schließen und Personal entlassen.

Oder aber sich profilieren und mit ihren Konzepten werben. „Ab sofort gibt es Konkurrenz unter den Trägern“, sagt auch Peter Maaß. Eltern sind nicht länger Bittsteller, die gnädig auf ellenlangen Wartelisten vermerkt werden. Sie sind eine zu umwerbende Klientel.

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