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Wunschland in Leichenhalle

■ Erst im Keller, dann auch anderswo soll das Volkshaus wieder ein öffent-liches Gebäude werden / Eine kurze Geschichte des Hoetgerbaus in Walle

Einmal sein wo du nicht bist in der masse. Die straße bergab das wunder der bewegung. Neidvoller blick, tasten der augen, unvernunft mit der hoffnung dem leben zu begegnen. Im wunschland sein, in der mitte. Mit kantigem gang ein gehäuse betreten, erobern. Bleiben mit dem siegel der zeit.

Wolfgang Ablaß hat sein Wunschland gefunden. Der Autor dieser mit dem Titel „Der Mensch“überschriebenen Zeilen hat ein Gehäuse betreten und erobert. Geschwitzt hat der Texter, Künstler und hauptamtlicher Teamworker bei Mercedes dabei. Und er hat sehr viel Staub einatmen müssen. Wie bei jedem Erobern gehört halt etwas Leid dazu. Doch für dieses Gehäuse, in dem er jetzt ein „offenes Atelier“einrichtete, lohnt schon ein Opfer: Es ist das Volkshaus an der Hans-Böckler-Straße im Bremer Stadtteil Walle.

Zusammengesparte Groschen

So ein Volkshaus ist oder besser war etwas Besonderes. Allenfalls aus Italien ist das „casa di popolo“als Begriff und mancherorts auch als Gebäude bekannt. Aber in Deutschland? Und in Bremen? NeubürgerInnen dieser Stadt wundern sich jedenfalls regelmäßig, wenn ihnen das Volkshaus auf dem Stadtplan oder beim zufälligen Vorbeifahren vor Augen kommt.

Wo heute die beige-braune Blechkiste des Ex-Bremer Kaffeerösters Eduscho, ein eiliger Wiederaufbau von Reihen- und Wohnhäusern sowie das Gewusel von Brücken- und Ausfallstraßen das Bild prägen, war vor dem Krieg eine westliche Vorstadt mit Bremer Häusern, engen Gassen und Wohnvierteln, die direkt ins Hafenrandgebiet übergingen. Hier – und anderswo auch – lebten die gewerkschaftlich organisierten Arbeiterfamilien, die in den 20er Jahren ihre Groschen zusammensparten, um sich ein Haus zu bauen.

Entdeckungstour auf dem Müllplatz

Es sollte keine Zentrale für Funktionäre, sondern ein offenes Haus, ein Volkhaus werden. Deshalb hat Bernhard Hoetger (1874 bis 1949), nach dessen Entwürfen das Gebäude 1928 errichtet wurde, neben Büroräumen noch Läden sowie ein Café, ein Casino und einen Kinosaal mit eingeplant. Und weil die sozialistischen VolkshäuslerInnen auch an den Tod nach dem Tod dachten, zog das Genossenschaftliche Beerdigungs-Institut („GeBeIn“) in den Hoetgerbau ein und unterhielt im Keller eine Leichenhalle.

Nur fünf Jahre nach Eröffnung machten die Nazis dem buchstäblich lebensumspannenden Treiben im Volkshaus ein Ende. Im Jahr 1933 stürmten und besetzten sie das Gebäude zweimal, und bei erster Gelegenheit schlugen sie auch Hoetgers expressionistische Figuren von der Fassade. FunktionärInnen wurden bei den Erstürmungen verhaftet, gewerkschaftliche Aktivitäten wurden verboten und die Organisationen schließlich „gleichgeschaltet“. Das Volkshaus selbst überstand die verheerenden Bombardements auf den Bremer Westen, der Volkshaus-Gedanke aber war tot.

Als eine der ersten hat sich Ulrike Rodenbüsch an diese Geschichte erinnert. Sie ist als Organisationsentwicklerin im Amt für Soziale Dienste, Bezirk West, tätig, das heute die größten Teile des Volkshauses nutzt. Tagsüber beantragen Menschen aus dem Bremer Westen hier Sozialhilfe, fragen nach einer Wohnung oder streiten mit den SachbearbeiterInnen. Auch ein Casino ist öffentlich zugänglich, das mit seinem musealen Charme und einem Mittags-Stammessen für 6,90 Mark lockt.

Doch was ist aus dem Kino geworden, den Cafés oder auch der Leichenhalle? Das fragte sich Ulrike Rodenbüsch, als sie vor drei Jahren in einer Broschüre mit alten Fotos vom Volkshaus blätterte. Lager vor allem oder, weniger vornehm, Müllplätze, lautete die Antwort, als sie im durchaus riesigen Gebäude auf Entdeckungstour ging. Im Kinosaal auf der Rückseite stapeln sich alte Möbel, sofern sie vor lauter Staub und Dreck noch zu sehen sind. Und hinter den verhangenen großen Fenstern eines anderen Saales an der Vorderseite residiert das Zelt- und Materiallager, aus dem sich Jugendorganisationen bei Touren ausstatten. Ein Restaurant könnte sich Rodenbüsch hier vorstellen. Aber weil sich in einem Amt nur langsam etwas ändern läßt, hat sie sich zunächst auf den Saal mit der makaber wirkenden Vorgeschichte beschränkt: Die alte Leichenhalle.

Durch ein Tor auf der Gebäuderückseite führt der Weg und setzt sich hinter einer Tür und einer Treppe in den Keller hinab fort, bis hinter einer weiteren Tür das Ziel erreicht ist: Die von roten Backsteinsäulen getragene, wohl vier Meter hohe Halle mit jeweils einem halben Dutzend Kammern an der Seite. Noch vor wenigen Wochen war die eigenartige Schönheit dieses Raumes nur zu erahnen, denn nach dem Auszug von „GeBeIn“1960 wurde die ehemalige Leichenhalle als Matratzenlager für den Katastrophenschutz genutzt. Bevor Wolfgang Ablaß auf Einladung Ulrike Rodenbüschs hier eines seiner „Wunschländer“finden konnte, mußte er gewogene neun Tonnen Matratzen aus dem Keller schaffen.

Im Keller ist alles im Original erhalten

Wer sich jetzt nach unten wagt, sieht, mit welcher Gründlichkeit Bernhard Hoetger das modernistische Volkshaus gestaltet hat. An den Wänden des Kellers finden sich die Steinornamente vom Schornstein wieder. Und die Luken zwischen den einzelnen Kammern sind mit grünen Terracotta-Rahmen jugendstilhaft geschmückt. Im Gegensatz zu anderen, zum Teil brutal renovierten Gebäudeteilen ist hier alles im Original erhalten. Wolfgang Ablaß mußte „nur“sauber machen.

Für eine Eröffnungsfeier am Montag abend hat er mit drei Installationen sowie Druckarbeiten Kunst in den Keller gebracht. Als Keimzelle für weitere Aktivitäten und als „offenes Atelier“will er Hoetgers dunkle Halle fortan nutzen.

Offen für andere bildende KünstlerInnen und MusikerInnen, die er zu gemeinsamen Projekten einladen will. Wenn demnächst im Veranstaltungshinweis der Begriff „Offenes Atelier im Volkshaus“auftaucht, dann ist der Keller auf der Rückseite des „Gehäuses“an der Hans-Böckler-Straße gemeint. Und wenn im Volkshaus eines Tages Filme zu sehen sind und ein Restaurant eröffnet, dann ist bestimmt die Organisationsentwicklerin im Amt für Soziale Dienste, Ulrike Rodenbüsch, dafür verantwortlich.

Christoph Köster

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