piwik no script img

Strichmännchenhermeneutik

■ Kritischer Sinn für historische Nachhaltigkeit: „The Comics Journal“ feiert seine 200. Ausgabe unter anderem mit einem Interview mit dem „Peanuts“-Zeichner Charles Schulz

Vor 22 Jahren gründete eine Gruppe von „Superman“-Fans ein monatliches „Magazin für die Comik-Kritik“: eine schon damals „anachronistische Idee“, wie sich Herausgeber Gary Groth nun in der 200. Ausgabe des Comics Journal erinnert. Am meisten, so scheint es, wundert er sich selbst über die Tatsache, daß sein Heft bis auf den heutigen Tag regelmäßig erscheint.

Zumal die Redaktion, geschmacklich gereift, das kommerziell potente Superhelden-Genre schon lange mit Mißachtung straft. Seit Anfang der achtziger Jahre konzentriert sich das Journal auf die von Großverlagen „unabhängige“ Comic-Szene. Mit Kritiken, Interviews und Autorenporträts hat man vor allem die zweite Generation der Underground-Zeichner gefördert. Im Verlag des Magazins, „Fantagraphics Books“, wurden viele von ihnen erstmals gedruckt: die Brüder Hernández, Peter Bagge, Daniel Clowes, Jim Woodring, Joe Matt.

In der dicken Jubiläumsausgabe des Journal wird nun Rückschau auf 20 Jahre Comic-Kleinkunst gehalten, aber auch der Brückenschlag zum kulturellen Mainstream versucht. Im Zentrum stehen zwei ausführliche Interviews: Charles Schulz, gerade 75 Jahre alt geworden, rekapituliert seine Entwicklung als Zeichner und Erzähler; mit den „Peanuts“-Strips hat er den Comic dereinst ins Bewußtsein einer „intellektuellen“ Öffentlichkeit gebracht. Der 30jährige Chris Ware hingegen entdeckt in seinen opulenten, ornamentalen Arbeiten gerade die Ästhetik der alten Sunday Funnies wieder. Seine „ACME Novelty Library“, die mit Preisen nur so überhäuft wird, will er im Gespräch als konzeptuelles Gesamtkunstwerk verstanden wissen.

Das weite Feld zwischen den Generationen von Schulz und Ware – und zwischen ihren ästhetischen Standpunkten – haben die Journal-Autoren mit einem subjektiven ranking ihrer Lieblingswerke gefüllt: In insgesamt 35 Rezensionen stellen sie die „bedeutendsten“ Comics der letzten 20 Jahre vor. Dabei wird die „high brow“-Avantgarde aus dem Umfeld von Art Spiegelmans Raw- Magazin ebenso gewürdigt wie der „gute“ Superhelden-Comic aus der Jack-Kirby-Schule; man empfiehlt die Nachdrucke klassischer Zeitungs-Strips zur Wiederansicht („Alley Oop“), erinnert aber auch an längst vergessenen Agentenkrimi-Trash aus den Siebzigern („Jack Chick“).

Gerade sporadischen Comic- Lesern sei die Lektüre dieser Essays ans Herz gelegt. Auf unterhaltsame Weise verbinden die Autoren ihren persönlichen Comic- Geschmack mit einem kritischen Sinn für historische Nachhaltigkeit. Ihr Kompendium über Geschichte und Gegenwart der amerikanischen Comic-Kultur dürfte auf absehbare Zeit einzigartig bleiben. Jens Balzer

„The Comics Journal No. 200“. Fantagraphics Books, Seattle 1998, 12,95 US-Dollar

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen