Dreimal hoch, oder so ähnlich

Vom legendären Vietnam-Kongreß 1968 an der Berliner Freien Universität über die Arbeitseinsätze für Nicaragua in den achtziger Jahren zur heute weltweiten Entwicklungszusammenarbeit der „regierungsunabhängigen Gruppen“: Internationale Solidarität verändert die Welt, und, wenn das leider nicht klappt, wenigstens die AktivistInnen.  ■ Von Bernd Pickert

keine atempause geschichte wird gemacht es geht voran. spacelabs fallen auf inseln vergessen macht sich breit es geht voran. berge explodieren schuld hat der präsident es geht voran. graue b film helden regieren bald die welt es geht voran

(Fehlfarben, 1980)

Als wir noch „wir“ sagten, weil wir zu wissen glaubten, wen wir meinten, in den Achtzigern, da waren wir die theoriefeindliche Nach-K-Gruppen- Zeit-Junglinke. Ein paar Jahre vor oder gar nach dem legendären Vietnam-Kongreß im Audimax der Berliner Freien Universität geboren, war Vietnam-Solidarität längst Geschichte, als wir anfingen, uns für politische Dinge zu interessieren. Eigentlich hatten wir nicht das Gefühl, mit den 68ern irgend etwas zu tun zu haben.

Wir kombinierten im Outfit das Anarcho-A mit dem Lenin-Button, den roten Stern und den rotschwarzen. OK, das Anarcho-A hatte man sich dann schon mit sechzehn, siebzehn Jahren wieder abgewöhnt, der rotschwarze Stern blieb noch eine ganze Weile. Denn Rotschwarz – das war ja immerhin auch Nicaragua. Und Nicaragua, lernten wir von Erich Fried, lag „überall“. Ganz so, wie Jahre vorher die US-Amerikaner behauptet hatten, in Vietnam die Freiheit West-Berlins zu verteidigen, und Che Guevara gefordert hatte, „zwei drei viele Vietnam“ zu schaffen, erklärte diesmal die Linke das periphere Nicaragua zum Zentrum des Konfliktes zwischen Gut und Böse. Anders als 68, als der Protest gegen den Vietnamkrieg ein Katalysator der Bewegung in Deutschland war, war Nicaragua Beiwerk, das sich gut einpaßte in den Stand der Bewegung – wenn auch im Grunde als Antagonismus.

Nicaragua war auch der Fluchtort einer Linken, der die neuen Fragestellungen im eigenen Land reichlich kompliziert erschienen. Wie gesagt, wir waren keine begeisterten Theoretiker. Gelesen haben wir aber schon. Für mich waren es zwei Bücher, die ich damals für prägend hielt: Das war „Wege ins Paradies“ von André Gorz und „Ökotopia“ von Ernest Callenbach, beide Anfang der Achtziger im Berliner Rotbuch-Verlag erschienen. Das eine ein theoretisches Gerüst alternativen Lebens und Arbeitens, das andere die recht kitschige Vision davon. Die Schlußfolgerung, die sie für uns bereithielten, war: Alles geht, man muß es nur machen, und zwar gleich. Von der Geschichte ist nichts zu erwarten, Veränderungen kommen nur dann, wenn wir sie selbst in Gang setzen.

Das aber war gar nicht so einfach. Gorz hatte seine Ausführungen vor allem auf dem Hintergrund der mikroelektronischen Revolution gemeint, deren mögliche Auswirkungen auf die an Lohnarbeit ausgerichteten Gesellschaften er recht genau beschrieb. Damit wurde aber auch unklarer, wo eigentlich die zwei Seiten der Barrikade genau waren, auf die zu gehen wir selbstverständlich bereit waren. So war es kein Zufall, daß ausgerechnet Nicaragua es uns in den Achtzigern so angetan hatte. Nicht nur war die Diktatur des von den USA unterstützten Somoza-Clans, der Nicaragua seit den dreißiger Jahren beherrschte, so richtig böse, nein, die revolutionären SandinistInnen schienen auch so richtig gut.

Innerhalb der sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) hatten sich in den späten siebziger Jahren die „Terceristas“ um Daniel und Humberto Ortega durchgesetzt. Im Unterschied zu den beiden anderen Flügeln der FSLN, dem „Verlängerten Volkskrieg“ und der „Proletarischen Tendenz“ setzten die Terceristas auf den schnellen Sturz der Diktatur durch einen Volksaufstand aller oppositionellen Kräfte. Nicaragua bot Anknüpfungspunkte für alle, für Friedensbewegte und ChristInnen, für die gesamte Linke (bis auf trotzkistische Gruppen – deren nicaraguanisches Pendant stand in erbitterter Opposition zur sandinistischen Regierung).

Nicaragua verband mit Vietnam der gemeinsame Feind, die gemeinsame, auch militärische Bedrohung durch die USA. In seinen Aufruf zum Vietnam-Kongreß im Februar 1968 hatte der SDS geschrieben: „Der Kampf des vietnamesischen Volkes ist grundlegend für die internationale Arbeiterbewegung. Eine entscheidende Konfrontation findet zwischen der internationalen Revolution und Gegenrevolution statt. Verzweifelt versucht der Imperialismus zu beweisen, daß er in der Lage ist, jede revolutionäre Bewegung zu vernichten. Unterstützt wird er hierbei von seinen eigenen internationalen Organisationen, wie z.B. der aggressiven NATO. Der Sieg des vietnamesischen Volkes wäre ein epochaler Beweis für die Unüberwindbarkeit des revolutionären Volkskrieges und des Sozialismus in der ganzen Welt.“ Anfang der Achtziger wußten wir, daß die USA zwar in Vietnam verloren hatten – die Weltrevolution, was auch immer das sein mochte, erschien uns dennoch nicht viel nähergerückt.

Die Bewegung, in deren Strom wir uns befanden, hatte de facto auch längst aufgehört, die Arbeiterbewegung als Subjekt einer revolutionären Befreiung zu begreifen. Mit der Arbeiterschaft hatten wir genausowenig zu tun wie die 68er – bloß daß wir auch keine Lust hatten, uns als Proletarier zu verkleiden oder mit unverständlichen Pamphleten zu herrgottsschlafender Zeit vor die Werktore zu stellen, um die ausgebeuteten Massen aufzuklären.

Wir hielten es eher mit der Einschätzung, das arbeitende deutsche Volk sei ohnehin tendenziell faschistisch. Um so begeisterter sprangen wir auf einfache Bauern, Arbeitslose und Landarbeiter in Nicaragua an, die mit der Waffe in der Hand ihre Revolution... und so weiter. Und der tumbe Antikommunist Ronald Reagan machte alles noch einfacher. Wo hier die Alternativprojekte in die Krise gerieten, weil sie entweder die plenaren Strukturen und Debatten endgültig satt hatten oder ihre wirtschafliche Lage sie zu Professionalisierungen zwang, da galt es in Nicaragua, das Selbstbestimmungsrecht des nicaraguanischen Volkes gegen den Imperialismus zu verteidigen – wie auch immer. Beim Anti- IWF-Kongreß 1988 in der TU Berlin, als in den Plenarsälen Elmar Altvater und andere Koriphäen einem großen Publikum weltwirtschaftliche Zusammenhänge erklärten, schmierte ich zwei Tage lang Brötchen und kochte Nicaragua-Kaffee. Das Geld, das unser Nicaragua-Verein damit in zwei Tagen erwirtschaftete, reichte für einen handbetriebenen Brunnen in den ländlichen Gebieten der nicaraguanischen Partnergemeinde Berlin-Kreuzbergs. Das war „praktische Solidarität“.

Inzwischen sind viele der damaligen Aktivisten in entwicklungspolitischen Institutionen oder Stiftungen beschäftigt. Ihre Vorgesetzten sind 68er. Beide tragen mit dazu bei, daß sich grundsätzliche Überlegungen aus dem entwicklungspolitischen Spektrum immer wie visionäre, nahezu ökosozialistische Gesellschaftsentwürfe anhören, die auf wundersame Weise nachhaltiges Wirtschaften, Geschlechterdemokratie, soziale Gerechtigkeit und friedliches Zusammenleben der Völker zu lösen verstehen. Daß diese „Querschnittsaufgabe“ den Rahmen der Erklärungen und Agendas nicht verläßt, tut dabei, so scheint's, eigentlich nichts zur Sache. Die Solibewegung ist tot – hoch die internationale Entwicklungszusammenarbeit.

In den Achtzigern haben wir, mit dem strengen moralischen Impetus einer sich gerade kostengünstig radikalisierenden Jugend, den 68ern vorgeworfen, ihr Engagement längst aufgegeben und sich ins Privatleben zurückgezogen zu haben. Mit Verachtung sahen wir diese Generation, die nach Tschernobyl 1986 nicht mehr auf die Demos mitging, sondern sich einen Lieferwagen besorgte und aus Angst vor Verstrahlung tonnenweise Vorräte an Konservenfraß und Selterswasser anlegte. Da waren die immerhin schon Mitte vierzig. Seh' ich uns heute so an, uns Anfang- Dreißiger, bleibt das Gefühl, noch viel schneller gealtert zu sein.