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Wieviel Freiraum möchtest du mieten?

Berlin ist die Stadt mit den meisten bewohnten Fabriketagen. In den siebziger Jahren begannen die ersten Künstler, Architekten und andere Freisinnige, sich ein Nest nach eigenem Gusto einzurichten. Sie wollten vor allem nicht in engen Wohnungen leben, sondern in Räumen, in denen sie ihre Wohnideen verwirklichen können. Das Leben in Fabrikwohnetagen hat allerdings seine Tücken. Heizungen gibt es selten. Und eigentlich ist das Wohnen in gewerblichen Räumen nicht erlaubt. Inzwischen werden die Etagenmieter stillschweigend von den Vermietern geduldet. Zu Besuch in einigen dieser Lofts war Vera Markus.

Ich versuche es noch mal, mit aller Wucht gegen die Tür zu poltern, doch immer noch ohne Erfolg. Der Bewohner der Kreuzberger Fabriketage, die sich hinter dieser mächtigen Stahltür verbirgt, scheint mich nicht zu hören, obwohl ich den Anweisungen auf einer Tafel neben der Tür so gut ich kann folge. Mit weißer Kreide steht dort geschrieben: „Laut und doll klopfen“.

Nach Versuchen mit Händen, Armen und Füßen setze ich meine Stimme ein, und erst als die Nachbarn auf mich aufmerksam werden, öffnet sich die Tür vor mir. „Du mußt schon lauter klopfen“, lacht mir ein amüsiertes Gesicht entgegen. Vor mir liegt ein riesiger, sonnendurchfluteter Raum, von welchem aus ich noch weitere drei Räume erblicke. Verständlich, daß man bei nahezu 200 Quadratmetern Wohnfläche und nicht vorhandener Klingel seinen Besuch leicht überhört.

Arbeiten und Wohnen auf engstem Raum. Gerd wohnt schon seit 14 Jahren hier. Diesen gelben Backsteinbau ließ der Besitzer einer Eisenbahnschlosserei Ende letzten Jahrhunderts, wie damals üblich, von einem Maurer erbauen. Architekten wurden meist nur für offizielle Gebäude herangezogen.

Solche kleingewerblichen Fabriken schossen um die Jahrhundertwende wie Pilze aus dem Boden. Da die Möglichkeit fehlte, weite Strecken zurückzulegen, um die Produkte zu verkaufen, entstanden die Fabriken nicht außerhalb der Stadt, sondern mitten in den Arbeitervierteln um das damalige Zentrum (Charlottenburg, Mitte).

Die Produkte wurden an Ort und Stelle oder auf umliegenden Märkten verkauft. Wie die Herstellung und der Verkauf waren Arbeiten und Wohnen auf engstem Raum verknüpft. Dafür bewährte sich ein bestimmtes Bauschema, nach welchem alle Fabrikgebäude gebaut werden.

Im Vorderhaus wohnte der Fabrikbesitzer – meist in der ersten, der Beletage –, die Fabrik lag zurückversetzt oft im zweiten oder dritten Hinterhof. So sind die Fabrikgebäude von der Straße aus nicht zu sehen. Ein etwas zu groß geratenes Tor oder im Boden eingekerbte Schienen, auf denen einst die von Pferden gezogenen Karren rollten, lassen vermuten, daß sich dahinter vielleicht wunderschöne, mit Klinkersteinen verkleidete und oft noch mit farbigen Jugenstilmustern verzierte ehemalige Fabriken verstecken.

Die äußere Pracht wird beim Anblick der inzwischen als Wohnungen umgenutzten Fabriketagen meist noch übertroffen, die dazu verleiten, an immer weitere Fabriketagentüren zu klopfen. Jede Etage ist wieder vollkommen anders und auf ihre Art ganz besonders ausgebaut und eingerichtet. Ihr Anblick verrät viel über ihren Bewohner, der seine Etage meist vollends umgestaltet hat.

Übernommen hat er sie in unbewohnbarem Zustand. So wird die Etage, deren Ausbau in vielen Fällen fast zu einem Lebenswerk wird, nicht so schnell wieder verlassen. Fast ausnahmslos traf ich auf die „Gründer“ der jeweiligen Etagen. In eine schon hergerichtete Fabriketage zu ziehen würde den Sinn eines solchen Unternehmens verfehlen.

Sanitäre Anlagen und Heizungen als Privatsache. Bei der Übernahme fehlen fast immer sanitäre Anlagen sowie eine Heizung. Auch muß die riesengroße Fläche irgendwie aufgeteilt werden, um allen Bewohnern eine Privatsphäre zu gewähren.

So ziehen Etagen insbesondere Architekten an, die hier ihren Ideen freien Lauf lassen können. Außer für Architekten sind Fabriketagen für alle Leute reizvoll, die eine etwas andere Lebensform bevorzugen – seien es Künstler, die ein geräumiges Atelier und Wohnraum verbinden, oder junge Leute, die gerne in großen Wohngemeinschaften leben, auch Familien mit Kindern, die den engen dunklen Fluren einer Wohnung entfliehen möchten.

In Gerds Etage strömt zu jeder Tageszeit Sonnenlicht durch eines der großen Fenster. Anders als die meisten Fabriketagenbewohner, die in ihren Räumen gleichermaßen arbeiten und wohnen, verläßt Gerd morgens seine Etage und kehrt erst nach einem langen Tag an der „Schaubühne“ – wo er als Kunstschmied für die Bühnenbilder zuständig ist – wieder zurück. Weil es schade wäre, wenn die Räume tagsüber nicht genutzt würden, wie Gerd meint, vermietet er eines der Zimmer. In einem anderen hat ein Fotograf seine Dunkelkammer installiert; Gerd möchte nun auch den großen Raum vermieten, vielleicht an einen Künstler oder einen Schneider.

Eine solche Idylle hat ihren Preis. Gerd beispielsweise hat keine richtige Heizung. „Ich habe mir im Laufe der Zeit ein dickes Fell zugelegt, aber Besuch fühlt sich im Winter nicht sehr wohl.“ Bevor eine Heizung eingebaut werden kann, müßten erst die einfach verglasten, undichten Fenster ersetzt werden – um nicht von den hohen Energiekosten aufgefressen zu werden. Doch mit nur einem kurzfristigen Mietvertrag – wie bei Gewerbemietverträgen üblich – möchte Gerd nicht allzuviel Geld in sein Loft hineinstecken.

Allemal kommt das Wohnen in einer Fabriketage einer unendlichen Investition gleich. Das Ausbauen nimmt kein Ende. „Es sieht hier immer anders aus“, meint Peter, der schon zehn Jahre in seiner Fabriketage wohnt und hier und da immer wieder ändert. Er wohnt mit Johanna und drei Kindern – seinem Sohn Vinzent, Johanna, Tochter Marie-Luise und ihrer gemeinsamen Tochter Isabella.

Heute erinnert sich Peter schmunzelnd an die Zeiten, in denen die Wasserrohre, die damals draußen an der Hauswand langliefen, regelmäßig einfroren. Es gelang ihm schließlich, den Hausbesitzer davon zu überzeugen, daß es auch für ihn ein Vorteil sei, die Rohre nach innen zu verlegen. Bis vor kurzem gab es keine Heizung. „Nahm man ein Bad in der damals mitten im Raum liegenden Badewanne, blickte man durch den Dampf in die eisige Kälte.“ Vielleicht denkt die zwölfjährige Marie- Luise gerade an diese Zeit, als sie versichert: „Ich werde später niemals in einer Fabriketage wohnen, sondern in einer ganz normalen Wohnung.“ Für ihren Vater ist das Wohnen in einer Fabriketage dennoch die einzige Art, in Berlin leben zu können.

„Wenn man draußen schon keinen Platz hat, dann muß man dafür drinnen davon genug haben.“ Und Platz ist in Fabriketagen reichlich vorhanden, „so daß man gelegentlich auch mit dem Fahrrad in den Küchenbereich fahren kann“, wie mir ein italienischer Freund, der an die engen Häuser Venedigs gewohnt war, begeistert von seinem ersten Berlinaufenthalt in einer Fabriketage erzählt. Aber auch er erinnert sich schaudernd an die eisige Kälte, die winters in Fabriketagen herrschen kann.

Panoramablick von 270 Grad auf Berlins Geschichte. Für den einjährigen Ruven war die Etage am Anfang zu groß. „Er hielt sich am liebsten in seinem kleinen Zimmer auf und fühlte sich im großen Wohnraum nicht wohl“, erzählt mir Margit, seine Mutter. „Auf Kinder wirkt ein solch großer Raum sehr stark. Wenn Kinder zu Besuch kommen, bleiben sie erst an der Türschwelle stehen und rennen dann ohne aufzuhören im Kreis um den Tisch herum.“

Margit und Peter sind beide Architekten. Sie arbeiten und wohnen in einer Fabriketage in Kreuzberg direkt an der Spree, die Ost- und West-Berlin voneinander trennte. Durch große Fenster mit einem Panoramablick von 270 Grad können sie die Geschichte Berlins betrachten. „Unsere Aussicht ändert sich ständig“, erzählt Margit begeistert, während sie einem vorbeifahrenden Frachtschiff zuschaut. Zuerst blickten sie auf den Mauerstreifen am gegenüberliegenden Spreeufer.

Nach der Wende zogen die Wagenburgler auf den ehemaligen Todesstreifen. Von dort wurden sie bald wieder vertrieben. Jetzt strahlen dort supermoderne Glaspaläste in der Sonne. Früher fuhren sehr wenige Schiffe vorbei, da sie auf dem Grenzgebiet nicht fahren durften. Inzwischen tuckern im Sommer alle fünf Minuten Touristenboote vorbei. So verwandelte sich dieses Gebiet in kürzester Zeit vom ruhigen Niemandsland zum belebten Zentrum.

„Damals haben wir auf der Oberbaumbrücke gegrillt“, sagt Margit. Sie scheint es angesichts des vielen Verkehrs, der heute zwischen dem ehemaligen West- und Ostteil über die Spree fließt, kaum mehr zu glauben. Die kleine vergessene Straße, an deren Ende diese etwas bizarre Jugenstilfabrik steht – mit ihrem Schrägdach und Türmen eher wie ein Schlößchen anmutend –, war in den achtziger Jahren sehr bekannt und berüchtigt. Um den äußerst aufwendigen Ausbau zu finanzieren, veranstalteten die Mieter öffentliche Feten.

So wurde auch Margit auf dieses Haus aufmerksam, als sie eines Abends der dröhnenden Raggaemusik entgegenlief und dachte: Hier muß ich mal wohnen.

Prenzlauer Berg und Abhöranlagen. Es müssen viele Partys stattgefunden haben, denn außer den Außenmauern bot dieses Haus nichts weiter. Es war ein Lagerhaus für Korn gewesen, was die noch zahlreichen Kornhäfen und Mörser bezeugen. An den Fensterscheiben sieht man noch Spuren davon, daß sie alle geweißt wurden, damit das Korn nicht keimte.

Die neuen Mieter, die das Haus besetzt und nun Mietvertrage bekommen hatten, mußten Wasserversorgung und Elektrizität installieren. Sie suchten sich ihren gewünschten Grundriß aus, nach welchem sie dann begannen, Wände hochzuziehen. „Damals hieß es: wie viele Quadratmeter willst du mieten?“ lacht die Mieterin von 210 Quadratmetern.

Doch bald breitet sich Wehmut über ihr Gesicht aus: „Wir müssen bald ausziehen, da es seit der Renovierung zu teuer geworden ist.“ Heute steht das denkmalgeschützte Haus fast leer; ein paar Büros, einige wenige Künstler, weggewischt die Sprüche an den Mauern, die Fahnen der Autonomen und das eigene Nachtleben durch die vielen früher dort übenden Musikbands.

Ebenfalls im ehemaligen Grenzgebiet der DDR- Hauptstadt leben Kaha, ein Architekt aus Georgien, und Bernd, der seit einem Motorradunfall vor fünf Jahren an den Rollstuhl gebunden ist. Sie blicken nicht auf die Spree, dafür aber auf weitläufige Geleise, auf denen früher die West- und Ostbahn nebeneinander herfuhren. Eine berühmte Stelle, wo Leute versuchten, von der Ostbahn auf die Westbahn hinüberzuspringen. Da direkt an der Grenze gelegen, wurde dieses Haus von der Stasi bewohnt. „Im Erdgeschoß war ein schallisolierter Raum mit Gittern. Die anderen Zimmer waren irrwitzig verkabelt, voll von Abhöranlagen“, erzählt Bernd.

Er suchte lange, bis er eine geeignete Fabriketage fand. Den alten Außenaufzug mietete er dazu, mit welchem er von seiner Wohnung auf die Straße gelangt. „Eine Fabriketage war schon immer mein Traum, seit meinem Unfall haben sich aber auch meine Wohnansprüche verändert. Enge Wohnungen sind nichts für mich. Ich brauche viel Bewegungsfreiheit mit meinem Rollstuhl.“

Wie fast alle Fabriketagenbewohner haben auch Kaha und Bernd Heizungsprobleme. Aber sie können keine Ansprüche stellen, denn das Wohnen in Gewerberäumen ist nicht erlaubt – auch wenn es von den Vermietern inzwischen stillschweigend geduldet wird.

Nach dem Mauerfall. In den siebziger Jahren, als die ersten Achtundsechziger, Künstler, Freisinnige oder Hausbesetzer sich mit kleinen Wohnschachteln nicht mehr zufriedengeben wollten, waren die Mieten der Fabriketagen mit etwa drei Mark pro Quadratmeter billig. Nach 1989 schossen die Preise in die Höhe. Gewerberäume wurden zur Mangelware und somit zum Spekulationsobjekt. Preise von über zwanzig Mark pro Quadratmeter waren keine Ausnahme. Momentan gibt es aber wieder viele leerstehende Etagen.

Will man in einer Fabriketage wohnen, muß man sich mit Nachbarn aller Art abfinden. So auch Birgit und Martin, die oft bis 23 Uhr die Auspufftests der unter ihnen befindlichen Autowerkstatt ertragen müssen. Und Carlos, der vor kurzem in eine Kreuzberger Etage gezogen ist, erzählt mir von seinen schlaflosen Nächten, verursacht durch das Geräusch, welches das Wasser, das von der in der oberen Etage eingerichteten Moschee durch die Rohre läuft.

„Zur Zeit des Ramadans haben sich 400 Leute die ganze Nacht lang die Füße gewaschen.“ Doch er fügt zufrieden an: „Jetzt ist mein Traum endlich in Erfüllung gegangen. So wollte ich immer wohnen.“

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