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Unter dem tropischen Vulkan

Mitten im Indischen Ozean, auf la Réunion, ist Frankreich ganz nah. Das französische Übersee-Département lockt mit Multinatur: Wasserfälle, Regenwälder, abgeschiedene Dörfer. Eine Verführung zum Wandern  ■ von Günter Ermlich

Renaults überholen auf der Küstenschnellstraße Citroäns und umgekehrt, der Hypermarché „Continent“ ist nicht zu übersehen, aus dem Autoradio trällert munter France Gall, und im kühlen Busbahnhof der Inselhauptstadt Saint-Dénis trägt das Poster „Chanel No 5“. Wir sind mitten im Indischen Ozean gelandet, auf La Réunion, 9.200 Kilometer oder 11 lange Flugstunden von Paris entfernt.

Nur zu dumm, daß unser Rucksack mit den Wanderschuhen auf dem Pariser Flughafen Roissy zurückgeblieben ist. Schließlich sind wir zum Wandern auf die Vulkaninsel gekommen. Nur einige Strandabschnitte im Südwesten der Insel eignen sich zum Planschen und Schnorcheln im bauchnabelhohen Wasser. Hinter dem schützenden Korallenriff lauern hie und da begierige Haie. Die wirklichen Schönheiten verbergen sich im Inselinneren. Das Hinterland der Küste ist bergig, wild, teilweise schwer zugänglich und multinaturell: donnernde Wasserfälle, dichtdunkle tropische Regenwälder, abgeschiedene Dörfchen, fruchtbare Hochebenen, ein passiver und ein noch aktiver Vulkan.

Gott sei Dank! Nach zwei Tagen hat Air France endlich die Wanderschuhe herbeigeschafft. Auf in die bizarre Bergwelt. Die Caverne Dufour, eine einfache Berghütte mit Zwei- und Dreifachstockbetten, ist das Basislager für den Aufstieg zum Vulkan Piton des Neiges. Die immer volle Hütte wird wie auch die anderen Gites von der staatlichen Maison de la Montagne verwaltet. Wer ohne Reservierung und Quittung spontan auftaucht wie die beiden Wandervögel aus Lyon, der wird nicht aufgenommen und muß schnellstens ins Tal zurückkehren.

Um 4 Uhr in der Früh tapsen 39 Wanderer auf dem Schlackenweg bergan, über dicke Steine und Lavageröll. Eine stumme Prozession im Schein der Taschenlampen. „Das ist ja wie auf den Champs- Elysées“, juxt die junge Elsässerin. Um 6 Uhr schlägt oben auf dem Inseldach in 3.069 Meter Höhe, minimal über Zugspitzniveau, die Stunde des Sonnenaufgangs. Kein Wölkchen trübt die anschwellende Morgenröte über dem Meer in der Ferne. Zu unseren Füßen liegen die drei Einsturzkessel Mafate, Salazie und Cilaos, sogenannte Cirques, die vom erloschenen Vulkan modelliert wurden und sich um ihn, einem dreiblättrigen Kleeblatt gleich, gruppieren. Ein spektakuläres Ensemble: bizarre Felsformationen, tief eingeschnittene Schluchten, kühne Kesselwände, steile Abbruchkanten von über tausend Meter Tiefe. Jenseits der Hochebenen Plaine des Palmistes und Plaine des Cafres beherrscht im Südosten der zweite Vulkan, Piton de la Fournaise, die Szenerie. Ein Kranz von Ortschaften säumt den schmalen Küstenstreifen.

Steil führt der Bergpfad, eine Belastungsprobe für die Haltbarkeit der Knie, durch den Nebelwald mit Tamarinden und Guavenbäumen hinunter in den Talkessel von Cilaos. In den Thermen der Cilaos-Quelle, reich an Magnesium und Kalium und über 30 Grad warm, legen wir uns in die Wanne, lassen die muskelkatergeprüften Körper von tanzenden Wasserbläschen entspannen und die Hornhaut unter den Füßen aufweichen.

Ein neuer Wandertag. Der Paß von Taibit, ein schmaler Bergsattel, ist das Übergangstor zwischen den Cirques von Cilaos und Mafate. Und wieder so ein Postkartenblick. Im Hintergrund des Mafate posiert ein Kegel von einem Berg, imposant wie der Machu Picchu. Eine zerklüftete Erosionslandschaft tut sich auf mit tiefen Schluchten, die der Geröllfluß ins Basaltgestein gegraben hat. Isoliert im Kessel liegen Ilets (Inselchen), Dörfer mit Hütten aus Holz und Wellblechdächern. Beim Abstieg zur Insel Marla hüpft uns leichten Fußes ein Bergjogger lächelnd entgegen, nur eine Wasserflasche in der Hand und eine Stoppuhr am Handgelenk. Er trainiert für „Le Grand Raid“, ein beinhartes Bergrennen von Süden nach Norden quer über das Eiland. 124 Kilometer ständig rauf und runter, 7.000 Meter Höhendifferenz. Die schnellsten Bergflöhe brauchen dafür unfaßbare 16 Stunden.

Auf dem Talboden in Marla leben nur eine Handvoll Familien, die Mais und Bohnen anbauen und ein paar Hühner, Ziegen und Schweine ihr eigen nennen. Während abends die Randonneurs nach vollbrachter Tageswanderung an der langen Tafel das Drei- Gänge-Menü inklusive importierten Bordeaux-Rotweins goutieren und die Einheimischen mal als „farouche“ (wild), mal als „authentique“ bezeichnen, hocken diese in der Hütte nebenan im Halbdunkel, zwischen Bergen getrockneter Maiskolben und dem offenen Feuer mit Riesenkochtöpfen drauf.

„Beeilen Sie sich, und kommen Sie nach Mafate, bevor sich alles ändert“, drängt die französische Touristenbibel „Guide du Routard“. Noch ist der Talkessel eine abgeschottete Welt, eine Insel auf der Insel, in die man nur zu Fuß oder per Hubschrauber eindringt. Seit den achtziger Jahren hat sich aber schon einiges geändert: Es gibt jetzt Fernsehen, mit staatlichen Mitteln wurden genormte Toiletten- und Duschkabinen sowie mit Sonnenkollektoren betriebene Warmwasserboiler geliefert. Doch gegen das Projekt einer Straße, die Mafate mit dem Rest der Insel verbinden würde, sperren sich viele Bewohner, wie unsere Gastgeberin Brigitte Hoareau: „Dann ist Mafate nicht mehr Mafate.“ Einleuchtend. Immer mehr Wanderer lernen das Fleckchen „Rückständigkeit“ mit seinen insgesamt nur 700 Einwohnern schätzen. Wie die Gruppe der Sektion Düsseldorf des Deutschen Alpenvereins, fünf drahtige Herrschaften jenseits der Sechzig, die die Alpen längst abgegrast hat.

Ein Tagesmarsch weiter, der Weg passiert auch eine saftig grüne Hochweide mit Milchkühen, erreichen wir La Nouvelle. Das verstärkte Wandereraufkommen trägt zur (touristischen) Dorfentwicklung bei: eine neue Berghütte, die einzige Bäckerei im Tal, ein kleines Sägewerk. Das einzige öffentliche Telefon, ein Holzgestell mit Solarzellendach, verbindet Mafate per Satellit mit der Außenwelt.

Der zwanzigjährige dunkelhäutige Joäl, der tagsüber mit Jeans und bunter Baseballkappe cool hinter der Holztheke des Krämerladens steht, verwandelt sich abends in einen perfekten Kellner, schwarze Hose und weinrotes Sakko, und fragt uns Wanderer, die Hand stilvoll hinter den Rücken gelegt: „Tout va bien?“ Joäl ist sichtlich zufrieden. Er hat einen Arbeitsplatz. Auf der Insel sind 40 Prozent der Bevölkerung ohne Arbeit.

In der ehemaligen Zuckerfabrik Stella Matutina, jetzt ein Landwirtschafts- und Industriemuseum, läßt sich Aufstieg und Niedergang des Zuckerrohrs nachvollziehen. Die Tropeninsel selbst produziert kaum ein Zehntel von dem, was sie importiert. Nur die Supermärkte mit prallem Warensortiment vom Camembert bis zum Champagner prosperieren und verkaufen die Produkte bis zu 30 Prozent teurer als in der Metropole.

Camembert? Champagner? Bon, aber wir Vulkanbesteiger und Cirquedurchwanderer bevorzugen die nahr- wie schmackhafte kreolische Küche. Immer dabei ist das traditionelle Carri, ein Ragout von Huhn, Ente, Schwein, Fisch oder auch Langusten, dazu Rougail, eine scharfe Sauce, als Sättigungsbeilage Reis, der in großen Mengen eingeführt werden muß, und natürlich der Chou-Chou. Die hellgrüne Knollenfrucht, „Liebling“ jedes kreolischen Gemüsegärtchens, ist eine lukullische Vielzweckwaffe, die als Gratin oder Gemüse, Salat oder auch mal als Küchlein verspeist wird.

Ausreichend Gelegenheit zum Schlemmen bieten die ausgeschilderten Tables d'hôtes, wo man bei Privatleuten gegen Voranmeldung einkehrt. Wie in Bras Panon an der langen Tafel von Eva Annibal. Die kleine, tiefschwarze Frau empfängt uns mit einem breiten, ansteckenden Lächeln und betört uns später mit ihrem Canard à la Vanille, einer Allianz von Ente und Vanille. Wirklich délicieux, Madame. Während wir uns an den hochprozentigen Rumpunschs berauschen, Kokos, Guaven, Pflaumen, kommen wir der netten Familie aus La Rochelle näher (die Mango-Flasche bitte!), deren Sohn und Bruder seinen Militärdienst auf La Réunion ableistet.

Um 7 Uhr morgens ist die Wanderwelt nicht mehr ganz in Ordnung. Dann fliegen die Hubschrauber heran. Wie Geier überkreisen sie röhrend den Piton de la Fournaise, zum fotogenen Schnappschuß auf die bizarre Vulkan- Marslandschaft, derweil wir wandernden Marsmännchen auf dem markierten Weg des gewaltigen Kesselbodens über graue Basaltplatten der braunen Vulkan-Pyramide entgegenstreben, um dann den Doppelkrater zu umrunden. Aus den Schlackeschloten des aktiven Dolomieu-Kraters steigen weiße Dämpfe empor. Im Schnitt macht La Fournaise, zu deutsch Glutofen oder auch Brutkasten, alle 18 Monate kräftig Blub. In der Regel werden die feurigen Ausbrüche innerhalb der weiten Einfriedung im Zaum gehalten. Doch 1977 wälzte sich ein gleißender Lavastrom über das Dörfchen Sainte- Rose und machte, o Wunder, vor dem Portal der kleinen, weißen Kirche halt. Seither heißt sie „Nôtre Dame-des-Laves“.

Gegen Mittag, wenn der Nebel die Bergspitzen und Kämme wie gewöhnlich schon bedeckt hat, kommen die Strandtouristen in Badelatschen und merken schnell, daß letztere mit dem Lavageröll wenig kompatibel sind. Währenddessen sonnen wir uns, von der Vulkan-Tour längst zurück, an der Berghütte. Im Vogelkäfig hockt der gelbschnabelige Coco und pfeift voller Inbrunst die ersten Takte der Marseillaise.

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