: Jenseits der Einsamkeit
Wenige Wochen nach seinem 84. Geburtstag starb Octavio Paz in Mexiko-Stadt. Als erster Autor seines Landes erhielt er 1990 den Nobelpreis für Literatur. Sozialistische Ambitionen gab er früh auf. In seinen Essays stand das Problem der „Mexikanität“ im Mittelpunkt ■ Von Cristina Nord
Am 2. Oktober 1968 wurde die Plaza de Tlatelolco im Zentrum von Mexiko-Stadt zum Schauplatz eines Massakers. Hunderte von Menschen verloren ihr Leben, als die Polizei das Feuer auf die demonstrierende Menge eröffnete. Die Studenten- und Demokratiebewegung, die sich in den Vormonaten gebildet hatte, sollte diesen Schlag nicht verkraften; viele Aktivisten landeten in den ohnehin mit politischen Häftlingen überfüllten Gefängnissen. Eine einem Rechtsstaat würdige Aufklärung des Blutbads blieb aus; die Olympischen Spiele, deren Auftakt für Mitte Oktober geplant war, fanden statt, als wäre nichts geschehen. Kritische Aufarbeitungen der Ereignisse – etwa Elena Poniatowskas O-Ton-Sammlung „La noche de Tlatelolco“ („Die Nacht von Tlatelolco“) – drangen erst zwei Jahre später ans Licht der Öffentlichkeit. Mexiko versank von neuem in der politischen Bewegungslosigkeit, in der es in den Vorjahren verharrt hatte.
Einer der wenigen, die sich damals mit harscher Kritik an die Öffentlichkeit wagten, war Octavio Paz. Der neben Carlos Fuentes wohl bekannteste Autor Mexikos, Literaturnobelpreisträger und berühmt für seine Gedichte und Essays, arbeitete zum Zeitpunkt des Massakers als Botschafter in Indien. Aus Protest über die blutigen Vorfälle schied er aus dem diplomatischen Dienst aus und weigerte sich zwei Jahre lang, mexikanischen Boden zu betreten. Von 1943 bis 1970 lebte er im Ausland.
Nicht immer zeigte sich der 1914 geborene Paz so skeptisch gegenüber den mexikanischen Machthabern. Im Gegenteil: Vieles, was unter linken Intellektuellen scharfe Kritik auslöste, wurde von ihm begrüßt. So zum Beispiel das Freihandelsabkommen zwischen Kanada, den USA und Mexiko, das 1994 in Kraft trat. „Ich bin überzeugt, daß unser Schicksal und das der Vereinigten Staaten durch die Geographie und die Geschichte miteinander verknüpft sind“, sagte er in einem Interview: eine Provokation angesichts des Antiamerikanismus, der in Lateinamerika nicht grundlos zum guten Ton gehört.
Ähnlich skeptisch verhielt sich Paz zum Aufstand in Chiapas. Während begeisterte Stimmen im In- und Ausland einen neuen Typus von Befreiungsbewegung aufkommen sahen, beklagte Paz die „entstandene Unordnung“, sorgte sich um das „Ansehen Mexikos“ und machte „landfremde Elemente“ verantwortlich. Vier Jahre zuvor hatte er für Aufsehen gesorgt, da er bei einem von ihm veranstalteten Kongreß zur Rolle des Intellektuellen nach dem Scheitern des Sozialismus in heftigen Streit mit Mario Vargas Llosa geriet. Der hatte es gewagt, Mexiko eine „getarnte“ und gerade deswegen „perfekte Diktatur“ zu nennen, Paz hatte die Herren von der „Partei der Institutionalisierten Revolution“ verteidigt.
Dabei hatte er genau dort begonnen, wo zahlreiche intellektuelle Laufbahnen des 20. Jahrhunderts ihren Ausgangspunkt nahmen: bei dem Engagement für die Deklassierten. Erste Gedichte schrieb er schon mit 14. Nachdem er sein Philosophie-, Jura- und Literaturstudium abgebrochen hatte, verschlug es ihn nach Südmexiko, auf die Halbinsel Yucatán, wo er eine Schule für die verarmte Landbevölkerung einrichtete. Wenig später reiste er auf Einladung Pablo Nerudas nach Spanien, wo der Bürgerkrieg gerade eingesetzt hatte. Einige seiner Gedichte, darunter das kämpferische „¡No pasarán!“ („Sie werden nicht durchkommen!“) zeugen von seiner Begeisterung für die republikanische Sache. Angesichts des Hitler-Stalin-Paktes indes gab er alle sozialistischen Ambitionen auf.
In seinen Essays widmete sich Paz ein ums andere Mal der Frage nach der kulturellen Identität. Was die Mexikaner ausmache, was unter Mexikanität zu verstehen sei, das ist Gegenstand seiner berühmt gewordenen Textsammlung „Das Labyrinth der Einsamkeit“ von 1950. Die Mexikaner, so lautet Paz' These, weigern sich, ihr doppeltes Erbe anzuerkennen. Sie verleugnen bald die indianischen, bald die europäischen Wurzeln; das Trauma, Produkt einer Vergewaltigung zu sein, läßt sie nicht los. Daher, so Paz, rühre die Selbstverachtung, rühre die Einsamkeit.
Im November vergangenen Jahres ereilte ihn ein eigentümliches Schicksal, das zuvor schon Jorge Luis Borges zuteil geworden war. Die Nachrichtenagenturen vermeldeten, daß Paz einem Prostataleiden erlegen sei, korrigierten den Irrtum aber wenig später. In Borges' Fall waren die Nachrufe schon erschienen; erst Wochen später folgte das Dementi. Paz selbst reagierte im November mit Humor. Die Kunst des Sterbens sei die Kunst des Versteckspiels, und der Umgang mit dieser schwierigen Kunst müsse gelernt sein, sagte er.
Octavio Paz ist gestern ist im Alter von 84 Jahren in Mexiko-Stadt gestorben.
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