piwik no script img

Der Bär zerbiß sein Antlitz

■ ...doch die Chirurgie gab ihm ein neues („Das verlorene Gesicht“, 20.15 Uhr, 3sat)

Bei einem Routinespaziergang an den Rand der Taiga wird der Förster Jewgenij Sewerin im November 1992 von einem Bär angegriffen. Das kräftige Tier zerbeißt ihm das Gesicht. Von der unteren Kopfhälfte blieb nur noch ein zermalmter Knochen. Doch Jewgenij überlebt. Vier Jahre lang zieht er sich in sein Haus zurück. Niemand soll ihn mehr sehen. Nur seine Familie läßt er an sich heran. Er unternimmt mehrere Selbstmordversuche.

Die Kamera bereitet sehr behutsam auf Jewgenijs Gesicht vor. Als es dann vollständig gezeigt wird, hat es seinen Schrecken verloren. Die Arbeit am Gesicht kann beginnen.

Ein christliches Hilfswerk ermöglicht Jewgenij den Aufenthalt in der Schweizer Klinik für ganzheitliche Medizin in Langenthal. Ein Chirurgenteam des Berner Inselspitals wird ihn in mehreren Operationen ein neues Gesicht geben. Wie zu einem Staatsbesuch schreitet Jewgenij am Ende des Films durch die Straßen der Berner Altstadt, um festzustellen, daß sich nach der Operation niemand mehr nach ihm umschaut. Das Stigma hat seinen Schauder verloren.

Elsbeth Leisingers Dokumentarfilm begleitet Jewgenijs einjährigen Aufenthalt in der Klinik. Nach der ersten, 24stündigen Operation ist er niedergeschlagen. Die Hoffnung, daß er sein Gesicht vollständig zurückerhält, ist dahin. Er wird ein künstliches Auge und eine künstliche Nase bekommen. Zwischenzeitlich weigert er sich, eine Prothese zu tragen.

Die Gesichtsrekonstruktion verlangt auch psychotherapeutisches Geschick. Der Film zeigt die doppelte Kunst der Ärzte. Die unmenschliche Gerätemedizin, von der oft die Rede ist, funktionierte ohne Einfühlung nicht.

Elsbeth Leisinger präpariert aber auch die Demut, die notwendig ist, ein Schicksal wie das Jewgenijjs zu ertragen. Im Lauf seiner Genesung ist Jewgenij vom atheistischen Sowjetbürger zum gläubigen Christen geworden. Ein Engel, glaubt er, habe ihn nach dem Unfall mit dem Bär zu seinem Haus zurückgeführt. Zum Feuermachen reißt Jewgenij Seiten aus einem Buch heraus.

„Nicht, das jemand denkt, ich zerstöre wertvolle Literatur“, sagt er. Jewgenij zerreißt Lenins Werke. Zu diesem Witz lächelt er fast in die Kamera. Harry Nutt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen