: Name um Name, wie ein Gebet
■ Mit einer zweitägigen Namenslesung in der Großen Hamburger Straße gedachte Berlin den 55.696 ermordeten Juden der Stadt. Lesen kann jeder: Zu Beginn, am Mittwoch abend, kamen 200 Menschen
Ruhig und friedlich liegt sie da, die Grünfläche an der Großen Hamburger Straße. Nur eine kleine Gedenktafel erinnert noch daran, daß sich auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Altersheims einst die Sammelstelle der Gestapo für die Transporte in die Konzentrationslager befunden hat. „Mißtraut den Grünflächen“, mahnte Heinz Knobloch 1979 in seinem Buch „Herr Moses in Berlin“.
Der Mahnung wird gedacht: 20 Jahre später findet an der Großen Hamburger Straße eine Veranstaltung zum Jom HaShoah, dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust, statt, die die Dimension des Mordens faßbar machen soll. 55.696 Namen füllen das „Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“. 55.696 Namen, hinter denen Menschen stehen. Jüdische Menschen, von den Nazis ermordet. Ihre Namen werden in alphabetischer Reihenfolge verlesen. 55.696 Namen in rund 28 Stunden. Gelesen wird ohne Unterbrechung. Tag und Nacht. Von Mittwoch abend bis Donnerstag nacht.
Delia, 10 Jahre alt, macht den Anfang. Sie steht auf einem Podest, damit sie das Mikrofon erreichen kann. „Aal, Jutta, geborene Mohr“, liest sie. „Als ich gehört habe, daß noch nicht so viele Teilnehmer da sind, habe ich mich gemeldet“, so ihre Begründung. „Abel, Ursel“. Es ist der letzte Name, den sie vorträgt. Das Geburtsdatum sagt sie nicht laut, registriert es für sich, im stillen. Ursel Abel, Jahrgang 1931. 1942 wurde sie deportiert. Da war sie 11 Jahre alt. Ein Jahr älter als Delia jetzt.
Organisiert wird die Namenslesung von Unite&Act, der Jugendkampagne gegen Rassismus und Antisemitismus. „Jeder Mensch hat einen Namen.“ Mit diesen Worten beginnt ein Gedicht der israelischen Dichterin Selda. „Jeder Mensch hat einen Namen“ lautet auch das Motto der Veranstaltung.
„Wir rechnen mit einigen hundert Teilnehmern“, sagt Ralf Melzer von Unite&Act. Genau könne man das nicht sagen. Zu Beginn, am Mittwoch abend, sind etwa 200 Menschen da. BerlinerInnen und TouristInnen, SchülerInnen und RentnerInnen sowie Nichtjuden und Mitglieder der Jüdischen Gemeinde.
Hellmut Stern zum Beispiel. Auch er liest in den ersten eineinhalb Stunden, die man für den Buchstaben A braucht. Dann zwei Namen, die nicht in die alphabetische Reihenfolge passen. „Mein Onkel Hans Wolf. Und mein Schulkamarad Gert Löwenthal“, sagt Stern. Es sei ihm ein tiefes Anliegen gewesen, die beiden Namen zu nennen. „Gert Löwenthal habe ich erst vorhin beim Durchblättern des Gedenkbuches entdeckt“, erklärt Stern. 1943 wurde der Freund nach Riga deportiert und ermordet. Seit seiner eigenen Flucht 1938 hatte Stern nichts von ihm gehört. „Ein Wunder, daß ich selbst noch hier stehe“, sagt Stern.
Die, die vortragen, treten ans Pult, konzentriert auf die Namen, lesen einige Minuten, Name um Name. „Wie ein Gebet“, empfindet Johannes Hildebrandt, Parrer der benachbarten evangelischen Sophiengemeinde, das Vortragen. Anders die Politikerin Petra Pau. Sie liest, blickt nach jedem Namen in die Fernsehkameras, wie bei einer Parteitagsrede. Eine bewegende Aktion sei es für sie gewesen, wird sie nachher sagen.
„Nachts zwischen drei und morgens acht Uhr hat es einen kleinen Engpaß an Teilnehmern gegeben“, sagt Melzer. Die „Grundversorgung“ sei aber gesichert gewesen. Am Vormittag wird es voller. Es kommt eine Krankenschwester aus der Nachtschicht und liest eine Viertelstunde. Ein Ehepaar bringt Frühstück. Ein Arbeitsloser steht in der Reihe, wartet und läßt die, die zur Arbeit müssen, vor. „Ich habe Zeit“, sagt er.
„Solche Veranstaltungen muß es immer wieder geben“, meint Christine Grauel. Sie wohnt seit 1986 gegenüber. „Wir dürfen das niemals vergessen. Es gibt immer noch Menschen, die behaupten, es sei nichts gewesen.“ Jeden Tag gehe sie an diesem Ort vorbei. Natürlich werde es irgendwie zur Gewohnheit. Doch an solchen Tagen wie heute werde einem immer wieder der Holocaust in all seinen Schrecken bewußt. Bewußt werde es auch an Tagen, an denen der Gedenkstein an der Großen Hamburger Straße geschändet werde.
Innerhalb der letzten fünf Monate ist dies gleich zweimal geschehen. Peter Kasza
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