piwik no script img

„Die verpassen etwas“

Israel ist ein jugendliches Land. Ein Sechstel seiner Bewohner ist jünger als 20 Jahre. 50.000 von ihnen besuchen nichtstaatliche Talmudschulen. Wie Joseph Kahane, 18 Jahre, aus Jerusalem. Die meisten nehmen das religiöse Leben nur zu den Festtagen ernst. So wie Shiri Teicher, 16 Jahre, Schülerin aus der Nähe Tel Avivs. Zwei Jugendliche, zwei Welten, vorgestellt von Christoph Schult

Wenn Joseph morgens um sechs aufsteht, greift er zu zwei Lederriemen. Der Morgenkaffee muß warten. An jedem der Lederriemen ist ein hölzernes Kästchen befestigt. Darin befindet sich das Glaubensbekenntnis der Juden. Zettel, auf denen drei Abschnitte aus der Thora zu lesen sind: „Schma Jisrael“ – Höre Israel. Der 18jährige wickelt einen der Gebetsriemen um seinen linken Arm, den anderen um seinen Kopf und beginnt zu beten, in dem er seinen Oberkörper hin und her wiegt. So beginnt jeder Tag von Joseph Meir Kahane, Talmudschüler in einer sogenannten Jeshiva in Jerusalem.

Ohne Gebet, dafür mit einem Schluck Nescafé, fängt der Tag für Shiri Teicher an. Mit dem Bus fährt die 16jährige in der Woche ins 40 Minuten entfernte Tel Aviv, wo sie die 11. Klasse des Gymnasiums „Thelma Yellin“ besucht. Heute ist die Aufregung groß, als sie in die Klasse tritt. „Shiri, was hast du mit deinem Haar gemacht?“ fragt eine Mitschülerin. „Habe ich abgeschnitten.“

Shiri ist ein unter weltlichen Israelis beliebter Name ohne biblischen Bezug und heißt übersetzt „Mein Lied“. Und tatsächlich spielt Musik im Leben der jungen Israelin, die in ihren Latzhosen einen eher jungenhaften Eindruck macht, eine wichtige Rolle.

Mit zwölf Jahren fing sie an, Oboe zu spielen. Ihr Gymnasium bietet jedem Schüler einen künstlerischen Schwerpunkt, der die Hälfte des Stundenplans einnimmt. Heute morgen steht jedoch Englisch auf dem Programm. Die Hälfte der Klasse hat die Lesebücher vergessen.

Die Lehrerin hat es schwer, die Klasse ruhig zu halten. Liegt es an der langweiligen Kurzgeschichte? Oder an Shiris neuem Haarschnitt? „Das ist immer so“, erklärt Shiri. „Für die meisten ist der künstlerische Unterricht wichtiger.“ Shiri hat sich dem Jazzgesang verschrieben und lernt unter anderem Improvisation und Komposition.

Anders bei Joseph in der Talmudschule. Für das Studium der heiligen Schriften braucht er vor allem Erinnerungsvermögen. Allein die 613 religiösen Vorschriften in den Kopf zu bekommen braucht höchste Disziplin. Acht Stunden verbringt er jeden Tag mit deren Studium. Morgens hält ein Rabbiner einen Vortrag, nachmittags und abends beschäftigen sich die Schüler dann allein mit dem Talmud.

Talmud bedeutet Lernen. Der Talmud selbst ist nach der Thora das wichtigste Werk des jüdischen Glaubens. Stolz erklärt mir Joseph seinen Familiennamen Kahane: „Daran kannst du erkennen, daß meine Vorfahren Tempelpriester waren.“ Sein Großvater kam in den dreißiger Jahren aus Rumänien nach Jerusalem, um dort eine Synagoge und eine Talmudschule aufzubauen.

Shiri blättert in Thora und Talmud höchstens im schulischen Bibelunterricht. Lieber liest sie Romane, derzeit gerade einen Schmöker von Michael Crichton. Aber die biblische Sprache findet die junge Israelin wunderschön. Für sie ist die Bibel eine Ansammlung von Ideen, die aus der Feder verschiedener Menschen stammen und einen Teil der Geschichte ihres Volkes widerspiegeln.

Sie ist nicht religiös, doch zu den jüdischen Feiertagen wird die Glaubenstradition wichtig. So wie jetzt, während der Woche des Pessachfests. Da ißt bis auf Shiris ältere Schwester die ganze Familie ungesäuertes Brot zum Andenken an den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Im Alltag dagegen spielt religiöse Tradition fast keine Rolle. Wenn Shiris Mutter kocht, trennt sie Geschirr und Mahlzeiten nicht nach „milchig“ und „fleischig“, wie die jüdische Lehre vorschreibt. Im Kühlschrank liegt das Kalbschnitzel neben dem Bananenmilcheis, Shiris Lieblingsspeise.

Was für Shiri das Eis, sind für Joseph die Zigaretten. Eine Schachtel der Marke „Golf Lights“ raucht der fromme Mann täglich. Das Geld verdient er sich in der Talmudschule. Für gute Leistungen erhalten die Schüler Bares. „Letzten Monat habe ich 50 Schekel bekommen“, erzählt Joseph. Das sind umgerechnet 25 Mark. Shiri arbeitet einmal die Woche als Babysitter bei Bekannten und bekommt 12 Shekel die Stunde.

Ein Bankkonto haben beide nicht. „Lohnt sich nicht“, erklärt Shiri. Wenn sie sich etwas kaufen will, bittet sie ihre Mutter um Geld. Zum Beispiel für eine neue CD. Besonders gerne hört sie Bebop: Charlie Parker, Dizzy Gillespie.

Trotz der Liebe zum Jazz hat sie sich kürzlich entschieden, Oboistin zu werden. Eine Entscheidung, die ihr nicht leichtfiel. „Als Kind haben mir meine Eltern geraten, alles auszuprobieren. Ballett auch. So war ich immer ziemlich beschäftigt. Jetzt habe ich ein bißchen Angst, mich auf nur eine Sache zu konzentrieren.“

Einen festen Freund hat Shiri bisher nicht gehabt. „Ich bin ein paar Mal mit Jungs ausgegangen, aber... Es ist mir noch irgenwie zu kompliziert.“ Irgendwann möchte sie heiraten und Kinder kriegen. „Eine Frau ohne Kinder verpaßt doch etwas ganz Wichtiges im Leben.“ Auch Joseph denkt noch nicht ans Heiraten. Aber nicht weil er keine passende Frau findet, sondern weil Ehe bei ihm automatisch Kindersegen bedeutet. Viele seiner Altersgenossen haben sich schon fürs Leben gebunden. Joseph aber sagt: „Ich fühle mich noch nicht reif genug, rund um die Uhr Kinder zu erziehen.“

Einmal in der Woche läuft Joseph vom orthodoxen Viertel Mea Shearim zur Klagemauer in Jerusalems Altstadt. Heute hat er sich einen besonders heißen Tag ausgewählt. 35 Grad im Schatten. Er schwitzt unter seiner Kluft. Nur seinen großen Hut setzt er ab und zu ab, um sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen aus dem Gesicht zu wischen. Zügig und mit gesenktem Kopf geht er an den Schaufenstern des weltlichen Jerusalems vorbei. Bei jeder Frau, die er passiert, senkt er den Blick und geht ein wenig schneller, als ob eine Gefahr auf ihn lauert.

Dann betritt er die Altstadt durch das Jaffator und ist am Ziel: Leise summt er Gebete, die den Verlust des jüdischen Tempels beklagen. Zwischen den Versen macht Joseph Pausen, um mit Bekannten zu schwatzen. Auf Jiddisch, denn das ist die Umgangssprache unter den orthodoxen Juden.

Hebräisch ist für Joseph die heilige Sprache der Thora. Auch Aramäisch hat er gelernt, die Sprache des Talmuds. Mit modernen Fremsprachen hat er nichts am Hut. Wozu auch, bis jetzt war er noch nie im Ausland. Shiri dagegen spricht gut Englisch und war bereits in New York und Paris, „auch London will ich unbedingt kennenlernen“. Doch bevor sie diese Träume wahrmachen kann, muß sie nach dem Abitur zur Armee. Zwei Jahre die Mädchen, drei Jahre die Jungen. Shiri würde gerne in einem Armeeorchester die Oboe spielen. „Doch das wollen viele. Ich weiß nicht, ob ich gut genug bin“, zweifelt sie.

Orthodoxe Juden wie Joseph sind vom Wehrdienst freigestellt. Ungerecht findet das Shiri und fordert: „Auch sie müssen zur Armee.“ Joseph ist da anderer Meinung: „Was will die Armee mit uns Orthodoxen? Ihr einziges Ziel ist es, uns zu weltlichen Juden zu machen.“ Er lehnt nicht nur den Wehrdienst, sondern den ganzen Staat Israel ab. „In der Thora steht geschrieben, daß nur der Messias den jüdischen Staat wiedererrichten darf. Deshalb ist der Staat Israel Gotteslästerung.“ Der 50. Staatsgeburtstag ist ihm daher eher ein Anlaß zur Trauer.

Doch ohne die Unterstützung des Staates könnte Joseph nicht leben. Die meisten Orthodoxen gehen außer dem Talmudstudium keiner anderen Beschäftigung nach. Sie führen ein Leben in Armut. Josephs Eltern bekommen für jedes ihrer elf Kinder rund 350 Schekel (175 Mark) im Monat. Warum aber nehmen sie Geld von einem Staat, den sie ansonsten mit allen Mitteln bekämpfen? „Wenn wir das Geld nicht nehmen, geht es in unsittliche Projekte“, meint Joseph.

Am Glaubensstreit der Juden, sagt Joseph, „haben die Zionisten Schuld“. Und: „Die dachten, in 50 Jahren werden hier keine Menschen mit Schläfenlocken mehr herumlaufen, doch guck, was passiert ist: Mehr und mehr Leute kehren zum Glauben zurück.“

Die Statistiken geben Joseph recht. Einer Umfrage zufolge haben 17 Prozent der Israelis in den letzten sechs Jahren eine engere Beziehung zur Religion entwickelt. Darunter immerhin 13.000 nichtreligiöse Juden, die zu orthodoxen haredim (Gottesfürchtigen) geworden sind. Hasara betschuva heißt dieses Phänomen, was soviel heißt wie „die Antwort gefunden zu haben“. Shiri dagegen weiß nicht, ob sie an Gott glauben soll. „Irgendeine überirdische Kraft wird es schon geben“, meint sie lapidar.

Bunte Schaufenster, laute Musik. Abends trifft sich Shiri häufig mit Freundinnen und Freunden in einem der Shoppingcenter Tel Avivs. Shiri kann das Leben der Orthodoxen nicht verstehen: „Ich finde, die verpassen etwas im Leben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen