: Pragmatisch ohne politische Leidenschaft
Mit dem Banker Sergej Kirijenko übernimmt ein politischer Newcomer die Regierungsgeschäfte in Rußland. Doch über Erfolg oder Scheitern des neuen Premiers entscheidet vor allem die Unterstützung des Präsidenten ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
„Er denkt schnell und kann gut rechnen“, pries Boris Jelzin Rußlands jungen Premier. Sergej Kirijenkos vermeintliche intellektuelle Potenz war sicherlich nicht das entscheidende Motiv, warum der Kreml-Chef den unauffälligen Außenseiter zum Hofmeister erkor und der alteingesessenen Elite vor den Kopf stieß. In weniger als zehn Monaten durchlief der zurückhaltende Geschäftsmann aus Nischni Nowgorod eine märchenhafte Karriere. Von seinem ehemaligen Mitstreiter Boris Nemzow als stellvertretender Energieminister in die Hauptstadt berufen, stieg Kirijenko schon im November an die Spitze des Ministeriums auf.
Als Boris Jelzin den altgedienten Premier Wiktor Tschernomyrdin samt Regierung entließ, standen vier Namen auf der Liste der potentiellen Nachfolger. Die Präsidialverwaltung fand an dem Kandidaten sogleich Gefallen. Der Minister hatte ein vorbildliches Dienstzeugnis vorzuweisen. Mit dem Energiegiganten Gasprom, der immerhin ein Viertel des russischen Haushalts einspielt, hatte der Minister geräuschlos verhandelt und am Ende für alle Beteiligten zufriedenstellende Ergebnisse erzielt.
Wichtiger indes: der Neuling hat sich keinem der Clans aus der Finanz- und Industrieoligarchie verschrieben. Und er hielt Distanz zu Parteien und politischen Interessengruppen. „Keusch wie eine Jungfrau“, sei er, witzelt Moskaus politische Klasse hinter vorgehaltener Hand. Kirijenko sieht darin eher eine Tugend. „Unbelastet von politischen Leidenschaften zu arbeiten“, sei sein größter Wunsch. Beim ersten Auftritt vor der Duma wurde er dem Ruf des Technokraten auch gerecht. Von Charisma hat er keine Spur. Statt dessen dozierte Kirijenko über Makroökonomie und schläferte die Abgeordneten ein: „Es ist nicht meine Aufgabe, den Leuten zu gefallen.“
Der jungenhafte Banker verkörpert einen neuen Politikertyp in Rußland. Schon die guten Manieren und der versöhnliche Umgangston unterscheiden ihn von der Masse der Akteure. Seine Besessenheit, eine Aufgabe überlegt anzugehen, sie zu Ende zu führen, zeichnet ihn aus. Kirijenko gehört zu einer Generation, die die Gunst der Stunde nutzte. Er verließ gerade als Schiffsbauer die Universität mit einem Prädikat, als Generalsekretär Michail Gorbatschow die Schrauben des kommunistischen Systems ein wenig lockerte. Damals arbeitete er auf einer UBoot-Werft in Gorki, dem heutigen Nischni Nowgorod. Binnen kurzem wählte ihn das Arbeitskollektiv zum Vorsitzenden des Betriebskomsomol, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Ein Jahr später führte er den Vorsitz im regionalen Komsomol-Komitee. Seine kommunistische Jugend leugnet der Vorzeigekapitalist nicht. Das Parteibuch bewahre er mit Dingen auf, „die mir lieb und teuer sind“, bekannte er, an kommunistische Ideale hätte er lange Zeit geglaubt.
Er hat auch wenig Grund, sich zu beklagen. Lediglich seine jüdische Herkunft bereitete ihm im täglichen Antisemitismus Rußlands Schwierigkeiten. Deshalb nahm er den Familiennamen seiner Mutter an. Jedoch lüftete er das Geheimnis gleich beim ersten öffentlichen Auftritt.
Der Komsomol galt in den 80er Jahren als Brutstätte und Kaderschmiede des hereinbrechenden Kapitalismus. Er war die Schaltstelle zwischen der kontrollierten staatlichen Planwirtschaft und dem halblegalen privaten Sektor. Die Komsomolzen arbeiteten unter idealen Bedingungen, genossen Rückendeckung der Partei und verfügten über beste Kontakte. Das Geheimnis ihres Erfolges und des Reichtums beruht auf den phantastischen Preisunterschieden zwischen den beiden Sektoren. Man kaufte zu billigen staatlichen Preisen Rohstoffe, Halbfertigprodukte und Autos und verkaufte sie mit vielfachem Aufschlag.
In Gorki gründete Kirijenko den Konzern AMK, der Baufirmen, Handelsunternehmen, Fabriken und Landwirtschaftsbetriebe sammelte. Management und wirtschaftliche Grundkenntnisse entnahmen die Autodidakten ersten Do-it-yourself-Readern, die in Rußland erschienen. Kirijenko absolvierte zudem am Hubbard Institut der Scientology einen der fragwürdigen Management-Kurse und schickte leitende Angestellte seines Betriebes dorthin: Führungskräfte sollten in einer gemeinsamen Sprache kommunizieren können, erklärte er im nachhinein.
Daraufhin mußte sich der amtierende Premier auch vor dem Parlament rechtfertigen. Angeblich wollte er mit der Scientology nichts mehr zu tun haben. Die russische Öffentlichkeit gab Ruhe. Selbst die erbittertsten Gegner verfolgten die Spur nicht weiter.
1991 ergriff der wißbegierige Komsomolze schon die Chance, wirtschaftliche Kenntnisse wissenschaftlich zu vertiefen. Kurz nach dem Putsch gegen Gorbatschow erhielt er einen Platz an der Moskauer Akademie für Nationalökonomie, die Gorbatschows Berater Abel Aganbegjan leitete. Seinen Professor schätzt Kirijenko bis heute, er gehörte zum Wissenschaftlerteam, das innerhalb von zehn Tagen das wirtschaftliche Regierungsprogramm für den amtierenden Premier aus dem Boden stampfte.
Nach zwei Jahren graduierte Kirijenko an der Akademie mit einer Arbeit über den wildwuchernden russischen Bankensektor. Unverhohlen empfahl er den Bankiers, „Kapital anzuhäufen, egal auf welche Weise“, und Gelder in Offshore-Gebiete zu transferieren. Vor allem aber legte er ihnen nahe, „auf allen Ebenen der Macht zu antichambrieren“. Er beließ es nicht beim akademischen Rat und gründete in Nischni Nowgorod die Bank Garantija. Das Geldinstitut sollte dem notorisch knappen Rentenfonds unter die Arme greifen und als staatliche Vertragsbank selbst Profit machen.
Das Unternehmen war von Erfolg gekrönt. Der russischen Wirtschaft fehlte damals das Geld, Betriebe gingen dazu über, Forderungen gegenseitig mit ihren Produkten zu begleichen, dem sogenannten Barterhandel. Das nützte dem Pensionsfonds wenig, der Renten in Bargeld auszahlen mußte. Die Bank stieg daher ins Vermittlungsgeschäft ein, suchte Partner, die Öl kauften, kümmerte sich um die Weiterverarbeitung und veräußerte schließlich das Endprodukt.
1996 avancierte Kirijenko zum Präsidenten der Norsi-Ölgesellschaft und legte den Grundstein, um als Energieminister nach Moskau zu wechseln. Ob sich der umtriebige Manager auf dem glatten Parkett im Moskauer Machtgerangel halten kann, hängt nur von der Unterstützung Jelzins ab. Seine Aufgabe wird sein, bis zu den Präsidentenwahlen die Drecksarbeit zu erledigen und dem Staatsoberhaupt den Rücken freizuhalten. Bisher hat Jelzin dem Ministerpräsidenten nur eine Übergangsrolle zugedacht. Sollte er scheitern, nimmt es Moskau mit einem gleichgültigen Schulterzucken zur Kenntnis. Der „kleine Computer“ Kirijenko kehrt in die Provinz zurück, um wieder richtig Geld zu verdienen.
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