: So kurz vor der Wahl wird selbst Herr Blüm freigebig
■ Nach Jahren der Kürzungen werden ABM-Trägern plötzlich die Stellen hinterhergeworfen
Berlin (taz) – Vor der Tür wartet der Lkw, ein paar kräftige junge Männer hieven Schreibtische auf die Ladenfläche. Die Möbel sind für die neue Außenstelle des Beschäftigungsvereins „Goldnetz“ bestimmt. „Wir expandieren“, sagt Gisela Pfeifer, Geschäftsführerin des Berliner Frauenprojekts. Bis Ende des Jahres will Goldnetz von 150 auf 300 ABM-Kräfte aufstocken, neue Räume sind angemietet. „Wahljahr“, meint Pfeifer, „das ist immer gut für das Geschäft.“
Die Schreibtische für die neuen Goldnetz-Büros in Mitte stammen aus der alten Außenstelle in Neukölln. Die mußte nämlich im vergangenen Jahr dichtmachen. Zuwenig Maßnahmen, der Hahn für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) war zugedreht. Doch jetzt boomt das ABM-Geschäft, nicht nur in Berlin.
300 Millionen Mark gibt die Bundesregierung im Wahljahr den ABM-Trägern für die Sachkosten dazu. Die Mittel für ABM werden zudem von der Nürnberger Bundesanstalt nicht mehr wie 1997 nur vierteljährlich bewilligt, sondern die Arbeitsämter können über das ganze Jahr hinweg selbständig disponieren. Sozialminister Blüm lockerte pünktlich zum Wahljahr auch noch die sogenannte Vergaberegelung, nach der Berufsverbände und Kammern die lästige Konkurrenz der ABM blockieren konnten. Vergessen scheinen die Äußerungen der vergangenen Jahre, nach der ABM nur herausgeworfenes Geld und der privaten Wirtschaft Konkurrenz sind. „Es ist ein arbeitsmarktpolitisches Hottehü“, seufzt Pfeifer über das Auf und Ab der Förderbedingungen.
Ihr Kollege ein paar dutzend Kilometer weiter auf dem Lande drückt sich bürokratischer aus: „Eine gewisse verbesserte Kontinuität des Gesetzgeber wäre anzustreben“, formuliert Arno Dahlenburg, Geschäftsführer der Beschäftigungsgesellschaft „Aqua“ im brandenburgischen Zehdenick. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der ABM bei Aqua von 350 auf 150. Jetzt sollen im Durchschnitt dieses Jahres wieder 300 Erwerbslose bei Aqua Fabrikflächen sanieren und Wege anlegen. Nur leider mußte die Gesellschaft im vergangenen Jahr auch festangestellte Kräfte für Schulung und Verwaltung entlassen. „Neue Stammkräfte müssen erst wieder eingearbeitet werden“, sagt Dahlenburg. Das Hin und Her ist teuer.
Mit mehr als 70.000 neuen ABM-Stellen rechnet die Bundesanstalt für Arbeit (BA) in diesem Jahr. Die AB-Maßnahmen wurden im vergangenen Jahr so stark heruntergefahren, daß sich die Zuwächse rein statistisch beachtlich ausnehmen. In Berlin beispielsweise sank die Zahl der ABM von 13.600 im Jahresdurchschnitt 1997 auf 8.000 zu Anfang dieses Jahres. Die Zahl werde sich mit allen Fördermaßnahmen und gesetzlichen Neuregelungen bis zum Jahresende „verdoppeln“, meint Andreas Klose, Beratungsleiter der Berliner ABM-Vermittlungsagentur SPI. ABM-Träger, die vorher Pleite machten, haben allerdings nichts mehr davon.
„Wenn wir im vergangenen Jahr die 150 ABM-Stellen bekommen hätten, gäbe es ,Atlantis‘ noch“, klagt Uwe Gluntz, Geschäftsführer von Atlantis, Beschäftigungsgesellschaft in Liquidation. Das als innovativ gefeierte Berliner Projekt fertigte Solaranlagen und Windkrafträder, kürzlich ging es zum Konkursverwalter. „Und nun ist es zu spät“, so Gluntz.
Nicht nur für die Projekte, auch für die Länder und Kommunen ist das populistische Auf und Ab der Bundesregierung nicht einfach zu verkraften. In Brandenburg beispielsweise muß die Landesregierung zu jeder ABM-Stelle eine Kofinanzierung von 250 Mark pro Kopf und Monat beisteuern. „Das müssen wir jetzt erst mal finanziell absichern“, schildert Hendrik Fischer, ABM-Referent im brandenburgischen Arbeitsministerium. „Die Unstetigkeit der Förderkonditionen ist ein Problem.“
Im vergangenen Jahr wies die Bundesanstalt den Arbeitsämtern die Mittel nur vierteljährlich zu. Die Folge: Die Arbeitsämter zögerten, sich mit allzu vielen ABM- Stellen zu binden. 1,6 Milliarden Mark für Beschäftigungsmaßnahmen und Weiterbildung wurden auch aus diesem Grund nicht abgerufen. Das soll im Wahljahr anders werden. Bundesarbeitsminister Blüm hat die Arbeitsämter aufgefordert, alle Gelder diesmal voll auszuschöpfen. Die Arbeitsämter können heute längerfristiger über die Mittel verfügen, die Möglichkeit von Überziehungskrediten soll ihnen die Angst vor Überbuchungen nehmen.
Die BürgerInnen können sich über den ABM-Segen zumindest kurzfristig freuen. Die von Goldnetz betreuten AB-Kräfte, ehemalige Facharbeiterinnen und Pädagoginnen, kümmern sich um Alte, reden, werkeln und kaufen für sie ein. „Die alten Leute sind doch völlig vereinsamt, da ist ein unheimlicher Bedarf“, so Pfeifer. Und was passiert, wenn im nächsten Jahr, nach der Wahl, der ganze Spuk wieder vorbei ist? Gisela Pfeifer sieht das gelassen: „1999 ist in Berlin Landtagswahl“, erklärt sie, „das hilft uns dann wieder über die Runden.“ Barbara Dribbusch
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