: Bilder eines Alptraums
Georges-Arthur Goldschmidt verlor als Zehnjähriger die Eltern. In Frankreich versteckte er sich vor den Nazis bis zum Kriegsende am 8. Mai 1945. Für den Saarländer Ludwig Harig gingen damals die Träume des Hitlerjungen in die Brüche. Warum verlaufen Biographien so, wie sie verlaufen? Zum 70. Geburtstag von Georges- Arthur Goldschmidt eine Laudatio ■ Von Ludwig Harig
Schon als kleiner Junge von vier blickt er skeptisch in die Welt. Er trägt einen weißen Anzug mit hochgeschlossenem Kragen und kurzen Höschen, geknöpfte Schuhe zieren seine Füße, blondes Lockenhaar fällt ihm bis auf die Schultern. Sein geschwungener, leicht aufgeworfener Mund scheint zu lächeln, doch die Miene trügt: Die beiden sichtbaren oberen Schneidezähne, die sich über die Unterlippe wölben, täuschen ein Lächeln nur vor. Der kleine Junge blickt argwöhnisch drein, obwohl die Augen hinter den vorspringenden Lidern fast geschlossen wirken und den Eindruck erwecken, mehr zu blinzeln als zu schauen. Das Gesicht ist nicht von Angst, aber von Mißtrauen beherrscht, als frage es mit Augen, Mund und Ohren: Was ist alles möglich in dieser Welt?
Da steht er also, der kleine Georges-Arthur Goldschmidt, für immer auf eine Fotografie gebannt. Er kann Stand- und Spielbein bis in alle Ewigkeit nicht mehr bewegen, und auch das hölzerne Tier, irgendein Hund oder Hase mit Schiebstange und Rädchen, muß für alle Zeit in seinen Händen verharren. Neben ihm sitzt die Mutter in einem Gartenstuhl, mit streng frisierten Haarwellen und längsgestreifter Schleifchenbluse, das Kleid fällt ihr weit über die Knie.
Zu ihrer Rechten steht der ältere Bruder mit Ponyfrisur, dahinter der Vater mit Kavalierstuch im Jackentäschchen und die Schwester im weit ausgeschnittenen Sommerkleid: ein trügerisches Familienidyll der frühen dreißiger Jahre in einem Garten in Deutschland, zu dem ein schönes gelbes Haus voller alter Möbel und Porzellangeschirr gehört.
Vielleicht ein Märchenschloß, in dem ein kleiner goldgelockter Prinz, abweichend von eingespielten Ritualen, überall auffällig, aus Argwohn vor einer ihn verfolgenden Meute, von Salon zu Salon die Flügeltüren mit den rundköpfigen Knöpfen öffnet und wieder schließt, sich in den hintersten Winkel versteckend. Fünfzig Jahre später erzählt er von den Alpträumen in diesem Haus. In drei autobiographischen Erzählungen spricht er von sich, aber er erzählt, als spreche er von einem anderen.
Wort für Wort die in Sprache gespiegelte Kehrseite meiner eigenen Welt nacherlebend, lese ich die Geschichte eines Preisgegebenen, eines Abgesonderten, eines Ausgesetzten: Es ist die Geschichte des verfolgten kleinen Jungen aus dem Reinbeker Garten, eine Gruselgeschichte, worin ich mich selbst als vorlauter Mitläufer in der Meute der Verfolger wiedererkenne.
Georges-Arthur Goldschmidts Leben ist ein erzähltes Leben: In seinem Roman Ein Garten in Deutschland, den Eugen Helmlé ins Deutsche übersetzt hat, lesen wir, wie der kleine Georges-Arthur seiner Mutter einen Schneeball ins Gesicht schleudert, nur damit er sich zeitlebens daran erinnern und es erzählen könne, wie er ihr mit seinem Schuh ans Bein tritt, damit er das leise, dumpfe Geräusch in jedem Augenblick wiedererkenne, ohne es überhaupt zu hören.
Erinnern und erzählen: Das wird sich zur Arbeit seines Lebens ausweiten. Er wird sich nicht scheuen, nicht schonen, wird sich bloßstellen und sogar noch das Allerbeschämendste erinnern. Und so wie er es erzählt, sehe ich den kleinen Georges-Arthur in der Pflegestation, wie er seinen weißen Anzug auszieht und sich ängstlich unter die Höhensonne legt: Lesend spüre ich, wie er mich mehr und mehr in sein Leben hineinzieht, schwimme in seinem Gedächtnisstrom mit und bin selbst ein kleiner Junge neben ihm auf dem Behandlungstisch, versuche wie er unter den Augen einer Diakonissin die Hand zwischen den Schenkeln zu verstecken, träume wie er die lüsternen Tagträume und spüre wie er den Boden unter dem Getrampel der Meute erzittern.
Ich sehe mich neben ihn nackt an den Pfahl gefesselt, auch mich wird man auspeitschen, bevor ich gefoltert werde. Und mit ihm empfange ich die Prügel der Diakonissin. Sie kann gleichzeitig sprechen und schlagen, und kreischend tönt es durch den gekachelten Raum: „Ekelhafter Bengel, kleine Drecksau!“ und nach kurzem Schweigen: „Du kleiner, kleiner Dreckjude!“ Da springe ich vom Tisch herunter, denn ein Jude, so viel wußte ich damals schon als kleiner Junge, ein Jude will ich um alles in der Welt nicht sein – auch kein Söhnchen feiner Leute!
Auf einmal, mitten im Lesen, wird mir bewußt: So tief lasse ich mich von Georges-Arthur nicht in sein Leben hineinziehen! Ich trug als Kind keinen weißen Anzug mit Pumphöschen und Spitzenmanschetten, meine Mutter saß nicht gravitätisch in einem Gartenstuhl, die Hände im Schoß, die Füße in eleganten Knöpfschuhen übereinandergeschlagen.
Sein Vater war ein unnahbarer Herr mit steifem Kragen und Kavalierstuch in der Brusttasche, der nach Friedrichsruh fuhr, den alten Bismarck im Sachsenwald beim Spazierengehen zu beobachten. Dr. Arthur Goldschmidt, protestantisch getaufter Jude, Großbürger, liberaler Nationaler, Oberlandesgerichtsrat in Hamburg, glaubte an die Heilsbotschaft der Nation im Sinne von Geibels Vers: „Und es mag am deutschen Wesen / einmal noch die Welt genesen“. Meinem Vater, Protestant, Kleinbürger, konservativer Nationaler, Anstreichermeister in Sulzbach, war das Wort Bismarcks eingetrichtert worden: „Nicht durch Reden werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut.“ Was der eine mit Feder und Tinte, tat der andere mit Sturmgewehr und Flammenwerfer.
Dr. Goldschmidt aus Reinbek, mit der Rosenbrille des Optimisten auf der Nase, beugte sich über das deutsche Gesetzbuch und sprach Recht: Doch zu wessen Rettung? Mein Vater, bleich wie ein Kalkbrocken, fuhr nach Forbach in die Garnison, marschierte nach Sedan ins Manöver, rückte aus nach Estrées in die Sommeschlacht, zum Brennen, zum Löschen, zum Versumpfen.
Lesend wollte ich herausfinden, wie Georges-Arthur Goldschmidt seine Lebensgeschichte erzählt, habe dafür seine autobiographischen Romane, den Essay über das Sitzen auf zwei Stühlen und die Charakterstudie über seinen Vater gelesen, habe Fotografien betrachtet, Gespräche mit ihm im Kopf hin und her gewälzt und, wo es nötig war, die Bilder seiner Alpträume zu enträtseln, meine Phantasie spielen lassen.
Je weiter ich vordringe ins Gestrüpp dieser Kindheits- und Jugendgeschichte, umso tiefer gerate ich in meine eigene hinein. Auch wenn ich mich dagegen sträube, meine Lebensgeschichte mit der seinen zu verknüpfen: Es kann nicht bei Georges- Arthur Goldschmidts Geschichte bleiben! Unser beider Geschichte kommen im Erzählen zu einer Geschichte zusammen, zu der auch meine Fotografien das gleiche beitragen wie die seinen, obwohl es Bilder aus einer Gegenwelt sind.
Im Alter von neun marschiere ich, die Trommel vorgebunden, in Jungvolkuniform mit Schwalbennestern an den Hemdsärmeln zwischen Vierzehn- und Fünfzehnjährigen die Hauptstraße unseres Dorfs entlang: Hinter uns in der Kolonne wehen die schwarzen Wimpel mit der Siegrune, die uns ein Zeichen sein sollte für den Triumph über die Feinde des Reichs. In diesem Augenblick sah Georges-Arthur Goldschmidt zum ersten mal den Korbkoffer, der ihn auf seiner Flucht aus diesem vom Nazismus verblendeten Deutschland begleiten würde.
„Es war noch nichts drin“, erzählt er, „mit einem Schlag warf er den Deckel über sich zu. Er konnte ihn leicht mit der Hand hochheben. Es herrschte ein etwas mattes, etwas gräuliches Licht; durch die Maschen des Stoffs hindurch erkannte man die Gegenstände, die sich in der Helligkeit abzeichneten. Man konnte transportiert werden... In seinem Kopf eine hohle Kugel, deren Wände unaufhörlich etwas zurückstießen, es drückte von oben auf die Augen, eine Präsenz, die nicht ausgesprochen wurde und die sich zu einem kleinen Wort zuspitzte, das mit der Zungenspitze ausgestoßewn wurde: Jude. Dieses Wörtchen mußte mit dem Korbkoffer in Verbindung stehen: es machte Angst, die Angst stand dahinter: geschlossene Türen, man schaute, irgend jemand würde kommen und einen mitnehmen.“
An einem Frühlingstag des Jahres 1938, ein halbes Jahr vor der Reichskristallnacht, setzte Dr. Goldschmidt seine beiden Söhne in den Zug. Mit Pässen ohne das J, das wie der Davidstern später als Erkennungs-, als Brandmal zur Verfrachtung in die Gasöfen von Auschwitz galt, fuhren die Söhne ins Ausland, zuerst nach Italien, dann nach Frankreich, nach Savoyen, ins menschenarme Voralpenland. „In Chambéry waren sie ausgestiegen“, erzählt Georges-Arthur Goldschmidt, „den Namen hatten sie auswendig gelernt.“
Georges-Arthurs Bruder war vierzehn, er selbst zehn Jahre alt: Sie waren gerettet. Hier, in einem katholischen Kinderheim, worin Georges- Arthur den Krieg überlebt, beginnt für ihn die quälende Zeit des Lernens, was ein Jude wäre, ein Mensch, der sich schuldig fühlen muß, weil er Jude und anders als andere ist. Er sucht, er irrt, er findet keine Erklärung dafür.
Erst viele Jahre später, unaufhörlich davon erzählend, legt er Zeugnis ab von diesen vergeblichen Gefühls- und Gedankenfluchten, „Zeugnis eines so ausgedehnten wie beengten Traumwandelns“, schreibt Peter Handke in seinem Vorwort zu der Erzählung Die Absonderung, „eines Traumwandelns voll des Schreckens und des Staunens, der Raum- und Zeitsprünge, der fahlen Labyrinthwelt des ewigen Kriegs und der weiträumigen Farbenwinkel eines episodischen Friedens.“
Georges-Arthur Goldschmidt erzählt, von quälenden Erinnerungen gepeinigt: „Er hatte in sich hineingehorcht und es hatte ihn gewundert, so etwas in sich zu haben, von dem er nichts wußte und nichts fühlte, es war etwas, was den anderen nicht vorgeworfen wurde, und hatte sofort verstanden, es war das, was er abends im Bett machte, das war es, das Judesein: das Schlimme... Eines Abends, als beide zur Strafe ohne Essen zu Bett geschickt worden waren, hatte es ihm ein größerer Mitschüler gezeigt und unter der Hand des anderen hatte er sich aufgebäumt, es war in ihm Ungeheures geschehen... Er konnte es mit heller Stimme noch so verneinen, noch so schwören, auch noch, während die Ruten sich um seine Hüften legten, seine Unschuld so sehr herausschreien, daß man es ihm am Schluß glaubte, er hatte aber doch an sich herumgespielt, es sogar immer mehr getrieben... Er hatte dann nur noch von Strafe zu Strafe gelebt. In Sachen Strafe kannte er sich aus, da wußte er Bescheid. Der beißende Uringeruch ließ ihn nicht mehr los, man stellte ihn unter die kalte Dusche, minutenlang, und er schrie noch mehr als unter der Rute, er schrie das ganze Haus zusammen... Schwarz gekleidet mit langen weißen Händen würde er sich den Henkern opfern und doch erschauerte er jedesmal, wenn er sich nackt zur Hinrichtung abgeführt vorstellte. Deshalb doch waren die Deutschen gekommen ihn mitzunehmen. Was er an sich begangen hatte, wußten sie.“
Jude sein, das hieß für Georges-Arthur Goldschmidt: etwas Verbotenes tun, die Hand zwischen den Schenkeln verstecken, an sich herumfummeln, sich selbstbefriedigen. Jude sein hieß: dafür die Koffer packen, ins Ausland flüchten, sich verstecken müssen, damit man der Strafe entgeht. „Schuldig war er, erwiesen schuldig“, richtet Georges-Arthur Goldschmidt und fällt sein Urteil über den, der er selber ist: „Er gehörte weggeschafft.“
Zur gleichen Zeit dröhnten in Deutschland die Pauken- und Trompetenstöße der Sondermeldungen aus dem Radio, und wir bekamen zu hören, SS- und Polizeiführer Jürgen Stroop habe am 16. Mai 1943 General Krüger nach Krakau gemeldet, mit der Sprengung der Synagoge sei die Großaktion in Warschau um 20.25 Uhr beendet worden, die Gesamtzahl der nachweislich vernichteten Juden betrage 56.065, und somit bestehe das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschaus nicht mehr. Da war die Judenfrage, wie es in der Sprache der Parteikanzlei hieß, auch in den Lehrplänen der Schulen angekommen.
Als Schüler einer nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt studierte ich die Rassenkunde des jüdischen Volkes von Hans F. K. Günther, denn ich sollte ein Referat darüber halten. Ob ich mich damals freiwillig gemeldet habe oder der Biologielehrer einen zwingenden Anlaß hatte, mich mit dieser Frage auseinandersetzen zu lassen, habe ich vergessen, nicht aber all das, was daraus folgte. Ich lernte die Begriffe Volksgesundheit und Rassenhygiene und las den Satz: Nur die klare Scheidung der Juden von den Nichtjuden ist eine würdige Lösung der Judenfrage.“
Was hieß Scheidung? Und wie sollten die Juden von den Nichtjuden geschieden werden? Sollten sie geschieden werden wie die Spreu vom Weizen, die Böcke von den Schafen? Sollten sie getrennt werden wie die Schmarotzer von den Wirten, die Dutzendmenschen von den Auserwählten? Geschieden von Bett und Tisch? Getrennt von Blut und Boden? Sollten sie das Land verlassen dürfen, verlassen müssen? In die Fremde ziehen nach Amerika, heimkehren nach Palästina?
Am Tag meines Referats hörte ich das Wort, das wie ein Gifthauch durch die Luft schwebte: Es war das Wort Endlösung, und Soldaten aus dem Reservelazarett erzählten uns, im Osten könne man hören von Juden-Verarbeitungs- und Verbrennungsfabriken, und die Juden seien geliefert mit Haut und Haaren.
Was für ein Abgrund zwischen Georges-Arthur Goldschmidts und meiner Welt! Zwei Gleichaltrige, die sich nicht kannten – er war damals fünfzehn, ich sechzehn Jahre alt –, begegneten sich im unwirklichen Raum der Täuschungen: Während er, von bigotten Nonnen geschunden, in den Irrglauben verfiel, seine von ihm selbst erweckte sexuelle Befriedigung für das Merkmal des Judeseins zu halten, sich dafür schuldig fühlte und immer wieder wie im Fieber, vom Wegschaffen, vom Abschaffen faselte, gehörte ich, von falschen Propheten einer menschenverachtenden Ideologie verführt, zu denen, die Georges-Arthur Goldschmidt weggeschafft, abgeschafft hätten, wären wir seiner habhaft geworden.
Oder klang in uns, mitten in dieser Zeit des Tötens, ein sanfter Hall des fünften Gebots nach, glomm ein Fünkchen Gewissen auf, als wir eines Tages ein Judenbübchen in den Trümmern des Frankfurter Römers unbehelligt stehen ließen? Er trug ein weißes Blüschen und ein weißes Höschen wie Georges-Arthur Goldschmidt auf dem alten Foto: Es hätte Georges-Arthur sein können. Doch er, von Trieben gequält, mit Ruten dafür gezüchtigt, blieb durch seine Peiniger vor den Deutschen geschützt. Mir blieb das Töten erspart, er ist dem Tod entronnen.
„Fast schon hinter dem Horizont sah man in der unheimlichen Stille der Entfernung, hinter den sich überschneidenden immer heller werdenden Felsenwänden der Talöffnung der Arve den Mont Salève. Es waren ihm öfters in Geographiebüchern davon Bilder gezeigt worden, einmal sogar im klaren Winterlicht hatte die Leiterin des Internats ihm den Berg gezeigt und gesagt: 'Das ist die Schweiz, da ist man frei, da gibt es die Deutschen nicht'.“
Lieber noch wandte er sich seitwärts nach Südwesten, wo sich vor den Toren von Chambéry zwischen zwei Bergrücken ein schmales Tal hinzieht bis zur Höhe von Les Charmettes, dem Landgut der Frau von Warens. Zu ihr nach Annecy und mit ihr nach Chambéry und Les Charmettes war Jean-Jacques Rousseau von Italien zurückgekehrt, zu dieser Zeit siebzehnjährig, nur zwei Jahre älter als Georges-Arthur Goldschmidt bei Kriegsende. „Ich war aus Italien nicht ganz so, wie ich hingegangen war, zurückgekehrt, aber so, wie man vielleicht nie in meinem Alter von dort zurückgekehrt ist: J'en avois rapporté non ma virginité, mais mon pucelage.“ – Ein Satz aus Rousseaus Bekenntnissen, worin Georges-Arthur Goldschmidt die Bedrängungen seiner eigenen Jugend wiederfindet, samt nützlicher Hilfen, sich endlich auch daraus zu befreien.
„Was habt ihr Deutschen jedoch aus dieser so klaren und einsichtigen Stelle gemacht?“ sagt er zu mir, „einer übersetzt: 'Ich brachte zwar nicht meine Keuschheit, so doch aber meine Jungfernschaft mit mir', und ein anderer: 'Ich hatte zwar nicht meine geistige, wohl aber meine körperliche Jungfräulichkeit zurückgebracht.' Alles Mumpitz, deutsche Drückebergerei vor der Realität! Die Übersetzer haben mit schönen Formulierungen einen großen Bogen um die Wirklichkeit gemacht. Rousseau sagt nichts anderes als: 'Ich habe zwar mit keiner Frau geschlafen und doch die sexuelle Wollust und ihre Befriedigung kennengelernt.' – und so wie er es sagt, versteht es jeder Franzose, der seine Sprache kennt, sogar der allereinfachste Mensch von der Straße.“
Georges-Arthur Goldschmidt, im Exil von Savoyen Franzose geworden, Bürger einer Nation, deren Sprache, deren Gesetze, deren Philosophie der aufgeklärten Vernunft er sich verpflichtet fühlt, hat wie Rousseau, einem Franzose gewordenen Schweizer, gelebt, empfunden, gedacht. Auch er hat in seinen Bekenntnissen, den beiden auf deutsch geschriebenen Erzählungen Die Absonderung und Die Aussetzung, die homoerotischen Neigungen zuerst als ein Laster beschrieben, dann zur Schuld erklärt, ganz wie es seiner protestantischen Herkunft und Erziehung entspricht.
Sein Entschluß, aus all diesen kaum erträglichen Bedrückungen sein Leben erzählend neu zu erfinden, hat ihn zum Dichter gemacht. Denn dieses Laster, schreibt Rousseau, „das Scham und Schüchternheit so bequem finden, hat überdies noch einen großen Reiz für alle lebhaften Phantasien: Es gestattet ihnen sozusagen, nach eigenem Gefallen über das ganze Geschlecht zu verfügen und ihrer Lust diejenige Schönheit dienstbar zu machen, die sie am stärksten reizt, ohne erst ihre Einwilligung erringen zu müssen.“
Es geht letztendlich ums Schöpferische, einzig und allein darum. Die lebhaften Phantasien, das sind nicht mehr die krankhaften, die in sexuelle Abartigkeiten ausschweifenden Trugbilder, und auch nicht die kapriziösen, doch flüchtigen Spiegelfechtereien sexueller Launen: Les imagination vives, wie es wörtlich bei Rousseau heißt, sind von nun an für Georges-Arthur Goldschmidt die schöpferischen Einbildungen des Geistes, sinnlich wahrnehmbare Bilder, die aufglänzend im Kopf erscheinen, sich mit einander zu neuen Vorstellungen verknüpfend.
Kraft seiner Phantasie erzählt Georges- Arthur Goldschmidt die Geschichte seiner Kindheit auf eine nie dagewesene Weise: In den Ängsten und Nöten des Allgemeinmenschlichen wandelt sich, in erzählender Sprache beschworen, der Jude zum Abgesonderten, zum Ausgesetzten schlechthin. Lesend treten wir schamhaft Abseitsstehenden in ein scham- und schonungslos preisgegebenes Leben ein, nachdem die Sprache die Grenzen der Täuschungen gesprengt hat im äußersten Maße dessen, was erzählend denk- und erreichbar ist.
„Die Einbildungskraft weitet für uns, sei es im Guten oder Bösen, das Maß des Möglichen aus und erregt und nährt folglich die Wünsche durch die Hoffnung, sie auch zu befriedigen“: In seinem Erziehungsroman Emile, worin er Gründe des wahren Glücks und Unglücks untersucht, spricht Rousseau vom Maß des Möglichen, das sich bei Georges-Arthur Goldschmidt bis an die Grenze des Erträglichen ausweitet.
Aus dem Wirklichen hat er erzählend das Mögliche gemacht, in beiderlei Sinn der Bedeutung als Denkbares und Erreichbares. Im Erinnern und Erzählen fand er sein Maß des Möglichen und erfand seinem Leben als Jude einen neuen Sinn. Darüber schreibend und sprechend werde auch ich ein anderer Mensch. Vielleicht habe ich erst mit dem heutigen Tage damit angefangen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen