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Arbeit für alle – ein greifbares Modell

Zwei praxiserfahrene Theoretiker liefern dem Club of Rome einen fulminanten Denkanstoß zur Zukunft der Arbeit  ■ Von Dieter Rulff

„Arbeit für alle“: Was als Utopie der lassalleschen Arbeitervereine am Beginn des industriellen Zeitalters stand, soll zu dessen Ende Realität werden. Freilich in einer Form, die jeglicher idealistisch-visionären Haltung entsagt. Orio Giarini und Patrick M. Liedke ziehen in ihrem Bericht an den Club of Rome „Wie wir arbeiten werden“ lediglich aus den offensichtlichen Mängeln eines sich wandelnden Wirtschaftssystems die notwendigen Konsequenzen.

Die Mängel, das sind die 36 Millionen Arbeitslosen, die die OECD in den Industrienationen ausmacht, davon allein 4,8 Millionen in Deutschland. Das sind Raten beschäftigungsloser Jugendlicher von bis zu 40 Prozent. Die Mängel, daß ist ein Großteil gesellschaftlicher Tätigkeit, vor allem von Frauen, die nicht als wertschaffend anerkannt, geschweige denn entlohnt wird. Die Mängel, das ist schließlich eine Gesellschaft, die sich selber attestiert, zu altern oder gar überaltert zu sein, wobei doch der Sachverhalt, der dieser Zuschreibung zugrunde liegt, das genaue Gegenteil besagt: daß der einzelne eine immer länger währende Phase seines Lebens fähig ist, am gesellschaftlichen Austausch teilzunehmen.

All diese Mängel basieren auf einer Wirtschaftsweise, die auch auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein wird, aus eigener Kraft genügend Menschen eine Teilhabe zu ermöglichen.

Deshalb bedarf dieses System nach Ansicht von Giarini und Liedke einer radikalen Ergänzung. Der frühere Chemiemanager, der heute als Professor in Genf lehrt, und der Wirtschaftsberater aus Darmstadt, der bei der „Genfer Vereinigung“ der Versicherer für makroökonomische Fragestellungen zuständig ist, haben den jüngsten Bericht an den Club of Rome verfaßt und darin Vorschläge zu einer Neuorganisation der Arbeit unterbreitet. Diesen Vorschlägen legen sie den Imperativ zugrunde, daß „Arbeit, genaugenommen jede produktive Tätigkeit, [..] der augenfälligste und grundlegendste Ausdruck unserer Persönlichkeit und unserer Freiheit ist“.

Deshalb schlagen die beiden Autoren ein Drei-Schichten-Modell der Arbeit vor. In einer ersten Schicht soll die überkommene vertikale Trennung der Produktion in öffentlich und privat zugunsten einer horizontalen aufgehoben werden. Demnach könnte der Staat „auf verschiedenen Ebenen und auf unterschiedliche Weise dahin gehend eingreifen, daß er das Äquivalent einer Grundbeschäftigung anbietet, die rund zwanzig Stunden pro Woche umfaßt, was etwa 1000 Stunden jährlich entspricht. Organisiert wäre sie auf vielfältige Weise und in unterschiedlich großen Zeitabschnitten. Diese grundlegende Schicht der Arbeit sollte nach einem garantierten Mindestsatz bezahlt werden, der übereinstimmt mit dem Gedanken eines negativen Einkommensteuersystems.

Die Annahme der Arbeit dieser ersten Schicht ist für Giarini und Liedke eine notwendige Voraussetzung für die Auszahlung von staatlichen Leistungen. Wer nicht arbeiten will, „der wird keinen Anspruch auf Auszahlung von staatlichen Leistungen haben“.

Beim Lesen dieser Zeilen hört man bereits das empörte politische Geschrei linker wie rechter Provenienz erklingen. Das Geschrei derer, die darin einen Arbeitsdienst erkennen, wie jener, die über dieses weitgewebte Netz sozialer Sicherung und die unzulässige Einschränkung privater unternehmerischer Initiative maulen. Den einen versichern die Autoren, daß es sich um ein zumutbares Angebot handelt, den anderen, daß „über diese erste Schicht bezahlter Beschäftigung hinaus [...] sämtliche Interventionen von staatlicher Seite untersagt werden“. Damit sehen sie „die maximale Entfaltung privater Initiative garantiert“ und zudem ein Maximum an marktwirtschaftlichem Wettbewerb gewährleistet.

Denn je besser die zweite Schicht der Arbeit, das bisherige „normale“, privatwirtschaftlich organisierte Produktionssystem in der Lage ist, Arbeitssuchende zu integrieren, desto mehr nimmt die Bedeutung der ersten Schicht ab. Auch wenn Giarini und Liedke diese zweite Schicht von staatlicher Bevormundung freihalten wollen, so warten sie doch mit einer ganzen Palette von Vorschlägen auf, wie das Erwerbsleben umorganisiert werden kann: Von der Teilzeitarbeit auch für diejenigen, die sich noch in der Ausbildung befinden, über flexible Arbeitszeiten und lebenslanges Lernen bis zum gleitenden Ausstieg aus dem Arbeitsleben reicht die Palette. Wie sie diese Modelle, die nicht neu sind, umsetzen wollen, ohne dirigistischen Maßnahmen das Wort zu reden, bleibt allerdings ihr Geheimnis. Wie sie auch die finanziellen Ressourcen, aus denen die erste Schicht der Arbeit bezahlt werden soll, vage halten. Der Übergang zwischen diesen beiden Schichten dürfte gleitender sein, als ihre kategoriale Trennung vermuten läßt.

In einer dritten Schicht fassen Giarini und Liedke die Arbeiten zusammen, die gemeinhin als privat abgetan werden: Eigenvorsorge, häusliche Krankenpflege, private Weiterbildung, familiäre Kindererziehung. Diese Arbeiten haben keinen Preis, sind aber gleichwohl „in der modernen Dienstleistungsgesellschaft zunehmend die Hauptvoraussetzung für ein effizientes Funktionieren und die Entwicklung des monetisierten Systems“.

Die Autoren treffen in ihrer Analyse der Industriegesellschaft eine Unterscheidung zwischen monetarisierten Tätigkeiten, die geldwert sind und entweder bezahlt oder nicht bezahlt werden (monetisiert resp. nicht monetisiert), und den nicht monetarisierten, die, weil ohne Äquivalent, als wirtschaftlich wertlos erachtet werden. Diese Differenzierung erweist sich als äußerst hilfreich bei der Vermeidung eines Mangels, der vorliegenden Programmen zur Reform der Beschäftigungsgesellschaft, wie etwa Ulrich Becks Bürgerarbeit, anhaftet und darin besteht, eine gemeinwohlorientierte, gleichwohl aber eigentlich unproduktive und damit minderwertige Tätigkeit zu propagieren.

Giarini und Liedke beschreiben die Transformation des zugrundeliegenden produktorientierten Arbeitsethos von seinen frühindustriellen calvinistischen Ursprüngen bis hin zu einem Dienstleistungssystem, das nicht mehr als tertiärer dem industriellen Sektor angegliedert ist, sondern, ihn durchdringend, Teil eines Wertschöpfungsprozesses wird. Der Wert verkörpert sich nicht mehr allein im Produkt, relevant werden vielmehr die Leistungen von Nutzensystemen von ihrer Entwicklung bis zur Verwertung ihrer Reste. Dabei bildet das eigentliche Produkt lediglich 40 Prozent des gesamten wertschöpfenden Prozesses. Weshalb es – die Autoren gehen leider nur flüchtig auf dieses Problem ein – von minderer Bedeutung ist, an welchem nationalen Standort sich der Produktionsort befindet, denn auch die Konsumtion ist noch mit der Nachfrage nach Arbeitsplätzen verbunden.

Dieser Prozeß ist begleitet von einer steten Wandlung von monetisierten in nicht monetisierte Tätigkeiten. Als Beispiel für diesen Trend sei das Home-Banking oder das Tele-Shopping genannt. Der Verbraucher wird dabei zum Verkäufer, indem ein Teil von dessen früherer produktiver Tätigkeit auf ihn übergeht. Er wird, wie Alwin Toffler schrieb, zum Prosumenten. Diese Tendenzen führen nun keineswegs zu einer Nivellierung des Wertbegriffs; auch die Autoren gehen bei ihrem Schichtmodell davon aus, daß die „professionelle und persönliche Identität des einzelnen [...] sich nicht unbedingt nach der Arbeit der ersten Schicht, sondern nach seinen freien (unternehmerischen) Tätigkeiten der zweiten Schicht“ richtet. Doch wird die Möglichkeit einer veränderten gesellschaftlichen Akzeptanz verschiedener Tätigkeiten aufgezeigt.

Dies geht für die Autoren einher mit der Forderung nach einem veränderten wirtschaftstheoretischen Instrumentarium. Die klassischen Marktmodelle, seien sie angebots-, seien sie nachfrageorientiert, vermögen die Komplexität der neuen Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr zu fassen. Erforderlich ist eine neue Bestimmung der Parameter, mit denen der Wohlstand der Nationen wie das Wohlergehen des einzelnen erfaßt werden. Für Giarini und Liedke gehört die Katalysatorenrolle, die technische Innovationen im Wirtschaftsprozeß einnehmen, auf den Prüfstand. Wie sie auch die Quantifizierung des Wohlstands, der durch nicht monetisierte Tätigkeiten erzeugt wird, als ein „Kernproblem für die Gestaltung der Politik“ bezeichnen.

Der wirtschaftstheoretische Teil ihres Buches ist den Autoren leider sehr komprimiert geraten. Darunter leidet nicht nur manchmal die Verständlichkeit. Auf dem Feld der Angebots- und Nachfragetheorie werden noch immer die politisch wirksamen Dispute ausgetragen, in die das Buch doch eigentlich intervenieren will. Auch deshalb wäre eine ausführlichere kritische Auseinandersetzung wünschenswert gewesen.

Dieser Bericht an den Club of Rome wird hoffentlich ähnliches Aufsehen erregen wie der erste, der sich Anfang der siebziger Jahre den Grenzen des Wachstums widmete. Man hätte sich das Werk umfangreicher gewünscht, und das kann man nicht von vielen Büchern sagen.

Orio Giarini, Patrick M. Liedke: „Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome“. Hoffmann und Campe, Hamburg 1998; 39,80 DM

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