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Bier über Hexen

In der Berliner Volksbühne fand ein Foucault-Tribunal zur Lage der Psychiatrie statt. Produktives Durcheinander, der geschlossene Raum des Theaters und die Abgrenzung von Mai-Demonstranten. Ein Bericht  ■ von Detlef Kuhlbrodt

Überall denkt man zwar an 68 zurück, doch die Themen, die die Neue Linke für sich entdeckte, werden kaum noch erwähnt. Die 68er-Projekte, die an den Körper gebunden waren – Drogen – oder in denen Randgruppen ins Zentrum rückten – die Beschädigten, die Stigmatisierten, die Ausgesperrten und Eingesperrten, Leute, die als nicht konvertierbare Währungen durch die Gegend liefen –, werden nur noch am Rande behandelt. Sie wieder in Erinnerung zu rufen war eines der Verdienste des „Foucault-Tribunals zur Lage der Psychiatrie“, das vom 30. April bis zum 3. Mai in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz stattfand. Die Organisatoren waren eine durchaus heterogene Gruppe: Soziologen, Politologen, Aktivisten der „Irrenoffensive e.V.“ und die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Zusammen versuchten sie „ein Lehrstück in Prozeßform“ aufzuführen. Mit Anklägern (die Soziologen Dietmar Kamper und Gerburg Treusch-Dieter, der Politologe Wolf-Dieter Narr u.a.), einer Jury aus ehemaligen Psychiatriepatienten und der amerikanischen Psychiatriegegnerin und Schriftstellerin Kate Millet, drei Verteidigern, die sich um eine Reform innerhalb der Psychiatrie bemühen, und diversen Zeugen – unter anderem auch Ellis Huber, Präsident der Ärztekammer Berlin.

Wie der Prozeß ausgehen würde, war von vornherein klar, zu ungleich waren die Gewichte zwischen Verteidigung und Anklage – im Sinne einer Umkehrung der realen Machtverhältnisse – verteilt. So verurteilte man am Ende die um sich greifenden Versuche, Ursachen für Ver-rücktheit in der Genetik zu suchen, und brandmarkte die Zwangsmaßnahmen der staatlichen Psychiatrie (Zwangseinweisungen, Zwangsmedikation, Lobotomie, die wieder beliebter werdenden Elektroschocks) als Menschenrechtsverletzung. Es wäre auch absurd gewesen, wenn unter dem Namen Foucaults, der übrigens nicht nur die Psychiatrie, sondern auch Tribunale strikt ablehnte, etwas anderes als eine Verurteilung herausgekommen wäre.

Der Zustand der Psychiatrie scheint weiterhin katastrophal zu sein. Die eine Weile in Westdeutschland verfemte Elektroschockbehandlung erlebe zur Zeit eine Renaissance. Mit kohlhaasmäßiger Ausdauer und Wut setzte sich Klaus-Peter Löser zur Wehr. Der hagere 45jährige war zwischen 1972 und 1981 in der Marburger Psychiatrie eingesperrt und wurde zwangsbehandelt. Zehn Jahre lang kämpfte er um seine Rehabilitierung. Schließlich bekam er eine halbe Million Mark Schmerzensgeld zugesprochen. Ohne die Unterstützung von Freunden hätte er keine Chance gehabt.

Das fundamentalistische Theaterurteil, in dem jeglicher therapeutische Zwang verdammt wurde und für das sich vor allem die amerikanischen Mitglieder von Jury und Anklage engagiert hatten – wer im Publikum dafür war, bekam eine weiße Nelke –, war eher Nebensache. Interessanter war das produktive Durcheinander, bestehend aus Patienten, die von ihren grauenhaften Erlebnissen in der Psychiatrie erzählten, Experten, die kein besseres Bild vom gegenwärtigen Zustand der Anstalten entwarfen, assoziierten Vorträgen und allerlei künstlerischen Darbietungen. Heilwirksame afrikanische Musik kam vorbei, aus den großartigen Irrenklassikern (Prinzhorn-Sammlung oder Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“) wurde gelesen. M.A.F. Gummibaum, der gerade, wie er sagte, mal wieder in einer manischen Phase war, trug ein Gedicht vor: „Reicht mir die Gurte und das Haldol / damit auch wird dem Psychotiker wohl / (...) mit der Neuroleptika-Keule / gegen die Langeweile / und wenn es dann quiekt und zappelt und schreit / ist das Delirium nicht mehr weit.“

Die delirante Sprache, die manche vielleicht erwartet hatten, kam eher selten vorbei. Und als sie dann vorbeikommen wollte oder sollte, als nämlich zur Walpurgisnacht ursprungsnah gekleidete „Hexen“ die Rede des Pariser Philosophieprofessors Jacques Poulain unterbrachen und das Podiumsgespräch in Sachen „Autismus der Wissenschaften“ mit viel Geschrei sprengten, erinnerte die Szene ein bißchen an die Nürnberger Indianerkommune; eine Gruppe pädophiler Erwachsener, die bis in die 80er Jahre hinein gern das Mikrofon bei Demos eroberte, um mit Kinderstimme über Diskriminierungen zu klagen. Wobei bei dem Auftritt der „Hexen“ auch nicht ganz klar war, ob sie nicht von diesem oder jenem instrumentalisiert worden waren. Sehr verwirrend war das: Die Wissenschaftler, die sich ihrer männlichen Wissenschaftssprache schämten, sie aber doch nicht verlassen konnten, wurden von Frauen unterbrochen, die Schamaninnen sein wollten, es aber auch nicht sein konnten. Einige der Frauen, die nach dem Podiumsgespräch ohnehin hätten auftreten sollen, hatten offenbar nicht gewußt, daß die Männer auf der Bühne noch weiterreden wollten; andere hatten ihren grimmigen Spaß: „Halt's Maul, Hirnwichser.“

Ein Bekannter, der zwischen den Fronten stand – als Behindertenarbeiter auf der Seite der Macht, als Depressionspatient und Fluctin-(Proszac-)Schlucker auf der Seite des diskriminierten Wahns –, goß lange nach dem Auftritt einer der Furien ein Bier ins Gesicht, was sowohl empört als auch mit beifälligem Kichern eines Rollstuhlfahrers quittiert wurde. Eine halbe Stunde später kippte ihm wiederum eine Hexenfreundin aus dem Publikum ein Bier über den Kopf, und gegen Mitternacht sagte eine der Hexen, daß sie das alles furchtbar peinlich gefunden hätte.

Die Vernunft konstruiert den Wahnsinn, um ihn auszuschließen und sich ihrer selbst zu vergewissern. Die „Wahnsinnigen“ werden ausgeschlossen; die „wahnsinnigen“ Anteile im Menschen werden verdrängt und tabuisiert. „Der Wahnsinn ist weiblich“ lautete der Titel des dreistimmigen Sprechtheaters von Gerburg Treusch- Dieter, Soziologin und Feministin der ersten Stunde. Die Vernunft ist männlich. Im „Ich denke, also bin ich“ versichere sich Descartes seiner recht luftigen Existenz um den Preis einer radikalen Abspaltung des entfremdeten Körpers. Der Körper ist weiblich, das Begehren ist weiblich, die Frau ist Körper. Schön griffen die Szenen ineinander; brillant las sie Otto Weininger als feministischen Vordenker.

Nur leider war's gerade 1. Mai, und plötzlich stürmte ein Demonstrant ins Theater, unterbrach die Soziologin und forderte den Saal auf, nach draußen zu kommen, denn vor der Volksbühne hatte die Polizei gerade begonnen, Demonstranten zu verprügeln. „Wir können ja eine Stunde Pause machen“, sagte Treusch-Dieter leicht genervt, „da können sie sich dann von den Polizisten verprügeln lassen.“ Kaum einer ging. So ging's dann weiter. Einige warfen der Feministin später Entsolidarisierung vor. „Vor ein paar Jahren hätte ich noch anders reagiert. Da hätte ich gesagt: ,Schluß, aus. Relevanteres findet statt. Da gehen wir raus‘“, meinte sie später. Zuvor hätte sie schon geahnt, was geschehen würde. „Da hatte ich ja gesehen, daß die Polizisten diese sogenannten Demonstranten, denn diese in der Sonne stehenden Leute wurden ja nur als solche definiert, anmachten: Jetzt rückt mal raus mit dem Bösen in euch. Wir sind nämlich deshalb hier. Sonst sind wir arbeitslos. Wir brauchen in irgendeiner Weise jetzt eine Reaktion, die uns den Sinn unserer Präsenz bestätigt. Daher war mir klar, daß es sich nur noch um voyeuristische Situationen handelt. Wo der sogenannte Wahnsinn – die sogenannten radikalen Demonstranten – nur dazu da ist, der Ordnungsmacht ihren Sinn zu geben, und diesen Sinn wollten wir ja hier gerade in Frage stellen. Deshalb hatte ich so reagiert, auch wenn so eine Innen-Außen-Trennung entstand, auch wenn für mich dadurch ein Stückchen Relevanz, dessen, was hier geschieht, verschwand. So wurde das Theater zum geschlossenen Raum, der sich gegen das Geschehen im Außen abgrenzt. Aber das wäre nicht dadurch aufzufangen gewesen, daß man nun hinausstürmt und den prügelnden Polizisten hinterherrennt, um ihnen einen Sinn zu geben.“

Das noch: Narr, Millett und andere wiesen zu Recht auf die Absurdität hin, daß Zwangsmedikation erlaubt ist, während diverse Drogen zum Zwecke der eigenen Erheiterung verboten sind. Die Fragen der amerikanischen Ankläger des Tribunals, die größtenteils für eine Geschäftsfähigkeit von sogenannten Wahnsinnigen eintraten, klangen exakt so wie die Fragen, die Brecht vor dem „Ausschuß gegen unamerikanische Aktivitäten“ gestellt bekam.

Am schönsten löste eigentlich Otto Rössler das Versprechen einer anderen Sprache ein. Der berühmte Professor für theoretische Chemie an der Uni Tübingen sprach über Descartes, über Traum und Wirklichkeit und die Schwierigkeit, sicher zu entscheiden, in welcher Wirklichkeit man denn wäre. Die Art seines leisen, freundlichen, freien Sprechens, bei dem er sich ständig verhaspelte, stolperte, kurzzeitig vergaß, um sich dann wieder zu erinnern, um mit dem schönsten Kichern der Welt, wie in einem luziden Kettentraum, wieder Anschluß zu finden – bezauberte. Als einziger erzählte er auch einen Witz. Von dem Irren, der seine Zahnbürste an einer Leine in der Anstalt hinter sich herzieht. Und der Irrenarzt sagt: Wie geht's denn Ihrem Hund? – Und der Patient sagt: Was für ein Hund – das ist eine Zahnbürste! – Und der Arzt sagt: Kommen Sie mal morgen zu mir, da gebe ich Ihnen dann Ihre Entlassungspapiere. Und als der Arzt verschwunden ist, grinst der Irre seine Zahnbürste an: Was, Fiffi, den haben wir mal wieder reingelegt!

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