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Jenseits der Abstiegsangst

Nach der Konsumversessenheit der achtziger Jahre ist demonstratives Sparen plötzlich wieder angesagt. Dabei geht es um die Verarbeitung von Abstiegsphantasien. Über Einübungen in die neue Bescheidenheit und das Vermögen der Wechselkompetenz  ■ Von Harry Nutt

In der „Lindenstraße“ traten der geschiedene Herr Beimer und seine zweite Frau vor einigen Wochen im Wohnsack vor die Kamera. Obwohl es noch Winter war, hatten sie die Heizung abgedreht und bewegten sich nun in ihren unförmigen Gehsäcken durch die Wohnung. Ein ähnliches Kleidungsstück, eine Art multifunktionaler Schlafsack, zählte einst zum Bestand eines jeden Bundeswehrrekruten. Der Soldat demonstrierte so auch im Schlaf Gefechtsbereitschaft. Inzwischen scheint der Überlebenskampf zu einer rein zivilen Angelegenheit geworden zu sein. Das Serienehepaar aus der Lindenstraße, in der man schon immer über ein Gespür für soziale Trends verfügte, hatte sich vorgenommen, allem Überflüssigen abzuschwören. Eine Zimmertemperatur von 20 Grad – der pure Luxus. Sparer gibt es nicht nur in der Lindenstraße.

Smart shopping nennt man die Kunst des Schnäppchenkaufs, der sich nicht mehr als beiläufiger Konsum ereignet, sondern erst nach gezielter Marktanalyse zustande kommt. Der smart shopper erwidert die ihm zufallenden Liebesblicke der Waren nicht in freudiger Erregung. Er weiß immer schon, wo was am billigsten ist. „Besserverdienende“ kaufen Champagner bevorzugt bei Aldi. Wenn es denn überhaupt noch der Markenkleidung bedarf, dann kauft der informierte Sparer direkt ab Lager. Zur neuen Sparsamkeit braucht es genaue Kenntnisse über die Neuordnung der globalen Märkte. Einfach produzierte Faltblättchen und ein „Handbuch für Sparschweine“ geben unterdessen Hinweise, wie man die Paste vollständig aus der Tube quetscht, und verraten alte Hausmittel zur Fleckentfernung, die teuren chemischen Substanzen den Garaus machen. Wer gezielt sparen will, ist allerdings selten davor gefeit, sich beim restlosen Entleeren der Packungen die Finger schmutzig zu machen. Erst mit der Zeit kommt ein wenig Geschick hinzu.

Dem Sparsamen war es bislang selten beschieden, soziales Ansehen davonzutragen. Die Kälte, der sich die Lindenstraßen-Bewohner versuchsweise aussetzten und die sie prompt mit einem Schnupfen bezahlten, wird in der einschlägigen Literatur als wesentliche Charaktereigenschaft des zwanghaften Sparers beschrieben. „Oh, er war ein Blutsauger, dieser Scrooge“, heißt es in Charles Dickens' „Weihnachtsgeschichte“. „Keine Wärme konnte ihn wärmen, keine Kälte ihn frösteln machen. (...) Der ärgste Regen, Schnee oder Hagel konnten sich nur in einer Art rühmen, besser zu sein als er: Sie gaben oft im Überfluß, und das tat Scrooge nie und nimmer.“ Der Preis des Geizes ist bei Dickens freilich der Entzug sozialer Nähe. Sogar der Blindenhund bewahrte seinen Herrn vor der Begegnung mit Scrooge. In der Literatur gab der Geizige stets ein schlechtes Beispiel.

In seinen Überlegungen zu „Charakter und Analerotik“ erläutert Freud, warum. Krankhafte Sparsamkeit hatte er bei Patienten entdeckt, die sich im Säuglingsalter der Darmentleerung verweigert hatten. Sie bezogen Lustempfinden aus dem Zurückhalten des Kots und übertrugen die erworbene Kunst später auf ihre Haushaltsführung. Einen weiteren Typus des Geizes machte Adorno aus. Diesem wird jede Kommunikation zum Geschäft. Der Geiz erscheint nun in institutionalisierter Form. „Die neuen Geizigen aber betreiben die Askese nicht mehr als Ausschweifung, sondern mit Vorsicht. Sie sind versichert.“

Mit derart schlechtem Image belastetet, ist es also kaum anzunehmen, daß die neue Sparsamkeit zum ökonomischen Regelverhalten wird. Zwar sorgte sich Die Woche kürzlich bereits um die wirtschaftlichen Folgen der voranschreitenden Geizwelle. Die Binnennachfrage stagniert, hieß es, in den Feinkostläden sackte der Umsatz allein im Januar um 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr ab. Aber lieber noch befassen sich die Medien mit der progressiven Überschuldung der Bundesbürger. Demonstratives Sparen ist nur die Kehrseite einer immer deutlicher hervortretenden Angst vor sozialem Abstieg. Die Zeit präsentierte unlängst auf dem Titel eine Familie, die man eben noch als gut situiert bezeichnet hätte. Doch der Mittelstand scheint immer mehr mit seinem Fall in das soziale Netz befaßt. Trotz weiter wachsenden Wohlstands nehme die Enttäuschung der Bevölkerung über den erreichten Status zu, konstatierte Meinhard Miegel, Direktor des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft (Merkur, Mai 1998). Was ist los im einstigen Wirtschaftswunderland?

Der Berliner Soziologe Heinz Bude hat schon vor einigen Jahren angeraten, sich wieder intensiver mit Fragen des Schicksals zu befassen. „Wer heute noch auf Erlebnissteigerung, Lebensstilverfeinerung und Risikotoleranz setzt, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Man ist nüchterner, bescheidener, aber auch ängstlicher geworden.“ Bude verzeichnet eine deutlich spürbare Statuspanik, zu der man das Reden über den gefährdeten Wirtschaftsstandort, den Reformstau und die diversen Spartechniken ohne weiteres zählen kann. Die bundesrepublikanische Öffentlichkeit ist seit geraumer Zeit mit Abstiegsphantasien beschäftigt. Das Modell Deutschland, das die Erzählung eines grandiosen sozialen Aufstiegs war, ist abgeschlossen. Fortan werden Geschichten von Seitwärtsbewegungen, Verlust und Ungewißheit erzählt.

Werner N. zum Beispiel, 43 Jahre alt, hatte vor drei Jahren eine gut dotierte Stelle als Speditionskaufmann bei einem Fuhrunternehmen angetreten. Er war viel unterwegs und kam mühelos auf eine 60-Stunden-Woche sowie eine entsprechenden Entlohnung. Das Angebot eines anderen Unternehmens hatte er selbstbewußt ausgeschlagen. Wenig später kam dann für seine Firma überraschend das Aus. Seither ist Werner N. arbeitslos. Die Chancen auf einen neuen Job stehen plötzlich schlecht. Die technische Entwicklung geht weiter, die Angebotsstruktur der Branche hat sich in kurzer Zeit radikal verändert. Wer längere Zeit aus dem Beruf heraus ist, dessen Know-how ist kaum mehr anschlußfähig.

Das ist es, was der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem neuen Buch „Der flexible Mensch“ (Berlin Verlag, vgl. Besprechung in der taz vom 7.4.) als Drift bezeichnet. Macht, so Sennett, ist heutzutage komplizierter strukturiert. Der neue Kapitalismus ist unlesbar geworden. Niemand scheint mehr verantwortlich für die Schicksalsschläge, die er erzeugt. Werner N. hält inzwischen Ausschau nach neuen Projekten. Er hat bereits eine ganze Reihe beruflicher Wechsel hinter sich. Nach einer Tischlerlehre hatte er Ende der 70er Jahre auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur gemacht, um anschließend als Weltenbummler und Gelegenheitsarbeiter seine Zeit zu verbringen. Er war Surflehrer auf Korsika, Busfahrer und Reiseleiter in der Türkei und Fernreisender auf Bali. Ohne eine spezifische Ausbildung war er schließlich in der Speditionsbranche gelandet.

Werner N. hat etwas erworben, was man als Wechselkompetenz bezeichnen kann. Richard Sennetts Befürchtung, daß die Subjekte des neuen Kapitalismus keine langfristige Orientierung von Lebensentwürfen ausbilden können, trifft auf Werner N. nur bedingt zu. Die Fähigkeit der Menschen, so Sennett, „ihre Charaktere zu durchhaltbaren Erzählungen zu formen“, war für die heute 40jährigen, vermutlich sogar schon für die Generation der 68er, nicht an Beruflichkeit gebunden. Nach erworbener Ausbildung kam es nicht zuletzt darauf an, den Antritt der Arbeitsbiographie zunächst einmal aufzuschieben. Zielloses Dahintreiben, Drogenkonsum und Ankommen in der Spaßgesellschaft war die eine Seite, Kaffeeernte in Nicaragua, Kibbuzaufenthalt in Israel und Handwerkslehre nach dem Studium die andere. Nun wird sich zeigen, ob die Generation, die sich allzu lange mit der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden, beschäftigt hat, für die kommenden Wirtschaftskämpfe präpariert ist.

Keine Frage, in den letzten fünf Jahren mußten mehr Menschen Abstiegserfahrungen machen als in den 30 Jahren davor. Abwärtsmobilität, bringt es der Münsteraner Soziologe Martin Doehlemann auf eine einfache Formel, wird zur Solonummer. Die Gesellschaft bietet beim Fall in die sozialen Netze so gut wie keine Hilfestellung und schreibt den Weg nach unten der individuellen Verantwortung zu. Martin Doehlemann würde einen wie Werner N. vermutlich als einen gewinnenden Verlierer beschreiben. Gewinnende Verlierer sind Doehlemann zufolge Leute, die Selbstachtungsgewinne und -verluste weniger in Begriffen von äußerem Erfolg und Prestige als in solchen von Ich-Angemessenheit und Unabhängigkeit fassen. Sie verfügen über soziale und kommunikative Kompetenzen und üben sich als Sinnsucher und Eigenbrötler in der Virtuosität des Scheiterns. Der neue Kapitalismus begegnet ihnen nicht, wie Sennett es beschreibt, als mächtiges Regime mit verschleierten Machtstrukturen, sondern als Herausforderung.

Die gewinnenden Verlierer sind alles andere als neue Helden, aber es scheint geboten, sich künftig ihrer Kompetenzen zu vergewissern. Vermutlich läßt sich von ihnen mehr lernen als zwanghaftes Sparen.

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