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Pionier des Fahndungsfotos

■ Carl Durheim machte 1852 die ersten erkennungsdienstlichen Aufnahmen. Ein Katalogbuch und eine Ausstellung widmen sich dem Künstler und seinen zwangsverpflichteten Modellen

Sein Weg markiert einen Wandel in der Geschichte der Fotografie. Der Schweizer Carl Durheim war einer der ersten Fotografen, der nicht mehr als vagabundierender fahrender Händler arbeiten mußte, sondern sich mit festem Atelier eine bürgerliche Existenz aufbaute. Der 1810 geborene und 1890 gestorbene Durheim druckte Briefmarken, erhielt für seine Aufnahmen später Auszeichnungen auf Ausstellungen und bestieg – angeblich als erster – den Groß Lohner bei Adelboden.

Doch ist er heute nur noch in Erinnerung für eine fotografische Arbeit, die er selber in seinen beiden Autobiographien nicht einmal erwähnenswert fand. Er fertigte von Oktober 1852 bis Ende 1853 die ersten erkennungsdienstlichen Aufnahmen an und ließ sie als Lithographien vervielfältigen. Das ist die erste moderne Registrierung mittels Fotografie, die erste fotografische Erfassung, Überwachung, Veraktung einer großen Menschengruppe.

Endlösung der „Heimatlosenfrage“

Die ungefähr 220 Porträts entstanden im Rahmen einer großangelegten Polizeiaktion. Hunderte nichtseßhafte Familien und Einzelpersonen wurden in der ganzen Schweiz verhaftet und in Bern konzentriert und verhört. Begründet wurde die große Operation mit dem 1850 erlassenen Bundesgesetz, mit dessen Hilfe die sogenannte Heimatlosenfrage endgültig gelöst werden sollte.

Zwar waren in Frankreich und Belgien bereits erste Versuche in Richtung auf erkennungsdienstliche Fotografie unternommen worden, doch noch nie vorher richtete sich eine solche Maßnahme gegen eine ganze Bevölkerungsgruppe, die in vereinheitlichter Form erfaßt wurde. Die Aufnahmen wurden als „Kniestücke“ angefertigt – die Häftlinge sind ab den Knien aufwärts zu sehen und sitzen an einem Tischchen. Die Hintergründe sind bei fast allen Aufnahmen wegretuschiert, sonst wären Gefängnismauern zu sehen oder Einzelheiten aus Durheims Atelier. Besorgt war man, daß die Betroffenen im Augenblick der Aufnahme mit Grimassen ihre Gesichtszüge verstellen könnten. Bei solchen „durch Unruhe und Veränderung der Physiognomie“ hervorgerufenen Schwierigkeiten hatte der Bundesanwalt Amiet die Vollmacht, gegen sie disziplinarisch vorzugehen, „bis ein gelungenes Bild möglich war“.

Doch nicht nur in der Fahndung sahen die Behörden Vorteile, auch eine erzieherische Funktion auf die Vagabunden hielten sie für möglich: „Diese Massregel (ist) zugleich ein moralisches Schreckmittel gegen Vorbringung unrichtiger Angaben. Die meisten der Heimathlosen hielten sich schon verrathen, wenn sie mit festgeschraubtem Kopfe vor der Maschine sassen, die in einigen Minuten ihr Bild erzeugte und die ihre höchste Bewunderung erregte.“

Viele der Fotografierten durften auf den Abbildungen nicht einmal mehr ihre Kleidung zeigen. Das Ziel der Schweizer Behörden war Seßhaftigkeit der Herumziehenden. Als Ideal galt die bäuerliche Familie, und so – wie bei einem Blick in die erwünschte Zukunft – mußten die meisten Häftlinge sich in einem Bauernhemd zeigen, das sie über ihren Lumpen trugen. Auch die manchmal sichtbaren bürgerlichen Requisiten hatten mit der Wirklichkeit des fahrenden Volkes nichts zu tun. Was sollten die Analphabeten anfangen mit dem Buch, das manchmal auf dem Tischchen neben ihnen liegt? Im Bildaufbau dieser ersten Polizeifotos scheinen die Erfahrungen mit bürgerlichen Repräsentationswünschen durch, die Durheim bei der Porträtfotografie gemacht hat. Außer Büchern finden sich auch Schirmmützen auf den Tischchen, obwohl die Nichtseßhaften oftmals ihre eigene Kopfbedeckung noch auf den Knien halten.

Durheim nahm die meisten Porträts der Gefangenen auf Papiernegativen auf, von denen er einen Kontakt auf Salzpapier anfertigte. Den rotbraunen Ton dieser Abzüge veränderte er mit Goldtonung in purpur- bis neutral- schwarzen Farben.

Papier wählte Durheim deshalb, weil es sich bei der noch vorherrschenden Daguerrotypie um ein Unikat aus Metall handelte, das sich nicht einfach vervielfältigen ließ und erst recht nicht in großen Auflagen zu drucken war. Von Durheims Papierabzügen konnten die Porträts direkt auf den Stein durchgezeichnet werden, um die gewünschte „frappante Ähnlichkeit“ zu erreichen.

Kein Mitleid mit Bruder Kesselflicker

Durheim erwähnt in seinen beiden Autobiographien die Obdachlosen mit keinem Wort. Weil dieses Geschäft ihm, der immer viel Wert legte auf finanzielle Erfolge, in dieser Hinsicht nicht ertragreich genug erschien? Vielleicht auch, weil er sich nicht an eine gesellschaftliche Gruppe erinnern wollte, der die frühen Fotografen selber angehörten, an den fahrenden, heimatlosen, nichtseßhaften Stand. An die Korbflechter, Schleifer, Kesselflicker, Seiltänzer, Schauspieler und Gaukler, mit denen er noch wenige Jahre davor als Fotograf übers Land hätte ziehen müssen.

Man sollte sich dennoch daran erinnern, daß das Ziel dieser Fotos die Ausmerzung der Vaganten in der Schweiz war; und daß dieses Ziel mittels Abschiebung nach Nord- und Südamerika, mit Gefängnis und Zwangsadoptionen auch erreicht wurde. Geblieben sind im Schweizerischen Bundesarchiv als letzte Zeugnisse ihrer Existenz verbleichende Bilder, auf denen uns diese Heimatlosen aus der Frühzeit der Fotografie ansehen wie die katalogisierten, letzten Spezies einer gefährdeten Art. Falko Hennig

Der Katalog „Wider das Leugnen und Verstellen“ ist im Offizin Verlag Zürich erschienen, 160 Seiten, 68DM

Die Ausstellung „Gesucht – Avis de recherche“ wird vom 1. bis 23.8. im Museum für Kommunikation in Bern zu sehen sein

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