: 70 Meter Müller-Material
■ Die Berliner Akademie der Künste hat den Nachlaß von Inge und Heiner Müller erworben. Nun müssen 150.000 Blatt geordnet werden. Bis 1999 soll der Nachlaß öffentlich verfügbar sein
Für Präsident György Konrád war es „ein glickliches Tag“. Archivdirektor Wolfgang Trautwein sprach von einem „großen Tag“. Und Brigitte Mayer, die Witwe Heiner Müllers, war froh, eine große Last losgeworden zu sein. Nach zweijährigen komplizierten Verhandlungen übernimmt die Akademie der Künste den Nachlaß von Inge und Heiner Müller. Zuletzt war das umfangreiche Material im Tresorraum einer Bank zwischengelagert und dort in alten Panzerschränken mit dem passenden Namen „Mauser“ untergebracht. „Natürlich gab es auch Interesse von anderer Seite“, sagte Brigitte Mayer, „aber jetzt ist das Archiv nach mancherlei Umwegen da, wo es hingehört.“
Das Konvolut, das „nur in Ansätzen eine Ordnung erkennen läßt“, so der zuständige Archivar Volker Kahl, auf den viel Arbeit zukommen wird, umfaßt etwa 130.000 Blatt Müller-Material und 20.000 Blatt aus dem Nachlaß der Lyrikerin Inge Müller, Heiner Müllers erster Ehefrau, die sich 1966 das Leben nahm. Ein Jahr wird die Sichtung und erste Ordnung dauern, zweieinhalb Jahre veranschlagt Kahl, bis alles katalogisiert und EDV-technisch aufbereitet sein wird. Dann erst ist eine sinnvolle Nutzung durch die Forschung möglich. Vielleicht wird es jedoch bereits zu Müllers 70. Geburtstag im Januar 1999 einen Band mit Nachlaßmaterial geben. Auf der Jahrestagung der Akademie an diesem Wochenende wird auch darüber zu beschließen sein.
Einstweilen muß man auf Zufallsfunde im Materialberg hoffen: 70 laufende Archivmeter mit Manuskripten, Korrespondenzen, persönlichen Dokumenten, Fotos, Rezensionen, Sekundärmaterial und Videos. Ein paar Kostproben präsentierte die Akademie zur Pressekonferenz in drei Vitrinen: einen besorgten Brief Müllers von 1952 an den „lieben Papa“, die Urkunde zur Verleihung des Heinrich-Mann-Preises an Inge und Heiner Müller vom 27.3. 1959, Müllers Mitgliedsakte des Schriftstellerverbands, der zu entnehmen ist, daß Heiner mit zweitem Vornamen Raimund hieß. 1961 wurde er nach den Auseinandersetzungen um sein Stück „Die Umsiedlerin“ aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Einen Entwurf seiner „Selbstkritik“, die er damals öffentlich vortrug, notierte er in einer seltsam krakeligen Kritzelschrift, der der Widerwille deutlich anzusehen ist. Auch ein Tonbandmitschnitt dieses Auftritts ist vorhanden. Daneben gibt es einen Brief Hans Mayers, in dem es heißt: „Ich bin nicht zynisch genug, Ihnen meinen Glückwunsch auszusprechen“ dafür, aus den „elterlichen Reihen“ des Verbandes „entfernt“ worden zu sein.
Für die Akademie ist die Übernahme nicht nur wegen des „erlesenen Materials“ (Trautwein) erfreulich, sondern auch wegen der engen Verbindungen zu Müller. Er war seit 1983 Mitglied der Ost- Akademie, seit 1986 auch der Westakademie. Als letzter Präsident der Ost-Sektion sorgte er zusammen mit Walter Jens für die rasche Fusion nach der Wende. György Konrád erinnerte sich seiner zahlreichen Begegnungen mit Müller, durch den er „etwas von dem tiefen Deutschtum verstanden“ habe, das Müller repräsentierte. „Er sprach viel von Todessehnsucht, der Selbstqual und den Hindernissen, sich selbst zu lieben. Er war ein starker Mann.“
Über den Preis für den Nachlaß wurde Stillschweigen vereinbart. Trautwein sprach jedoch von einer „sechsstelligen Summe“, die aufgetrieben werden mußte. Das gelang mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, des Landes Brandenburg und der Klassenlotterie. Jörg Magenau
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