Der Westen hängt den Osten ab

Frühjahrsgutachten: Wachstum in den alten Bundesländern erstmals höher als in den neuen. Im Europavergleich liegt Deutschland mit 2,6 Prozent auf dem vorletzten Platz  ■ Von Beate Willms

Berlin (taz) – Der Euro wird keine schwache Währung, die deutsche Wirtschaft sich allmählich festigen, die Arbeitslosigkeit nur langsam abnehmen – die ganz große Schelte der vergangenen Jahre für die Bundesregierung blieb aus, als die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute gestern in Bonn ihr Frühjahrsgutachten vorstellten, auch wenn sie „dringend Steuer- und Sozialreformen“ anmahnten. Eine wirklich frohe Botschaft hatten sie jedoch nicht zu verkünden.

Um 2,6 Prozent wird die deutsche Wirtschaft ihrer Einschätzung nach im laufenden Jahr wachsen. Auch wenn das im Vergleich zu den 2,2 Prozent des Vorjahres eine Festigung bedeuten würde, bliebe es doch hinter den im Herbstgutachten prognostizierten 2,8 Prozent zurück. Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) hatte in der vergangenen Woche noch erklärt, er rechne „eher mit 3,0 Prozent“. Im Vergleich der EU-Staaten liegt Deutschland damit wie schon in den vergangenen Jahren auf dem vorletzten Platz. Nur in Italien (2,25 Prozent) geht der wirtschaftliche Aufschwung noch langsamer voran.

Ganz wenig Bewegung wird nach Auffassung der Institute auf dem Arbeitsmarkt stattfinden. Lediglich 4.000 Frauen und Männer weniger als 1997 sollen Ende 1998 bundesweit offiziell als erwerbslos registriert sein. Der Rückgang wird allerdings ausschließlich im Westen stattfinden, im Osten werden sogar 71.000 Erwerbslose mehr – insgesamt 1,4 Millionen – erwartet. Strohhalm: Für 1999 sagen die Experten jetzt schon mal eine „leichte Verbesserung“ voraus. Begründung: Die Wirtschaft werde „an Fahrt gewinnen“, sobald die Folgen der Asienkrise überwunden seien. Zudem würden sich die Bruttoinlandsprodukte 1999 annähern, die mit 2,7 Prozent im Westen und gerade mal 1,9 Prozent im Osten derzeit noch weit auseinanderklaffen.

Während das Hamburger HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung, das Münchener Ifo-Institut, das Institut für Weltwirtschaft in Kiel, das Hallesche Institut für Wirtschaftsforschung und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in Essen weiter für niedrige Löhne und Tarifabschlüsse plädierten, bestand das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin auf einem Minderheitenvotum: Wenn die Produktivität um zwei bis 2,5 Prozent steige, müßten auch Lohnerhöhungen bis zu vier Prozent möglich sein, erklärte Konjunkturforscher Heiner Flassbeck. Dies würde auch die Binnennachfrage ankurbeln, die neben den Problemen in Asien mitverantwortlich für das zu langsame Wachstum sei.

Die Bundesregierung deutete die Zahlen jedoch als klare Bestätigung ihrer Politik. Rexrodt forderte die Tarifpartner auf, „nach der Politik jetzt auch das ihre beizutragen“. Das von Opposition, Gewerkschaften und nun auch vom DIW geforderte „Ende der Bescheidenheit“ sei dabei „mit Sicherheit die falsche Konsequenz“.

Schützenhilfe bekam der Bundeswirtschaftsminister im Wahlkampfjahr vom Bund der Deutschen Industrie (BDI) und dem Bundesverband der Arbeitgeberverbände (BDA). Mehr Optimismus sei angebracht, hieß es beim BDI. Ein Sprecher des BDA erklärte, man sehe nicht ein, weshalb die Prognose nach unten korrigiert werden sollte, sie könnte im Gegenteil „locker übertroffen“ werden. Parallel dazu hat nach der Bauwirtschaft gestern nun auch der Verband der Chemischen Industrie verlauten lassen, er könne 1998 „höchstens noch mit drei Prozent“ Wachstum statt prognostizierten vier Prozent rechnen. Auch werde es noch länger dauern, bis neue Arbeitsstellen geschaffen werden könnten.

SPD-Chef Oskar Lafontaine wies darauf hin, daß eine Arbeitslosenzahl von 4,38 Millionen kaum als Erfolg zu werten sei. Sie zeige vielmehr, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit „weiterhin eine Schicksalsfrage der deutschen Politik“ sei, die zu lösen sich die Regierungskoalition als unfähig erwiesen habe. Ursula Konitzer, Vorsitzende der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), erklärte, das Gutachten sei ein „denkbar schlechtes Zeugnis für die Bundesregierung“. Vor allem der Rückschlag in der ostdeutschen Wirtschaft sei „katastrophal“.