: Sprungbrett zu fernen Sternen und Welten
Sie soll so groß werden wie zwei Fußballfelder – die Internationale Weltraumstation. In sechs Wochen gehen die ersten Teilstücke auf die Reise ins All. Es wird zwar nicht mehr offen darüber gesprochen, aber das eigentliche Ziel ist immer noch die bemannte Raumfahrt. Die Weltraumstation – nur eine Zwischenstation für die weitere Eroberung des Weltalls ■ Von Peter Tautfest
Die Kosten gehen in die Trillionen. Zur Vollendung dieses gewaltigen Werks hat sich ein internationales Konsortium gebildet unter Teilnahme der Schweiz und Chinas, der Niederlande und des Irak, des Iran und Italiens, Saudi Arabiens und Pakistans, Nigerias und Indiens und natürlich der USA und Rußlands. Nein, nicht von der Raumstation ist die Rede, mit deren Zusammenbau eigentlich im Juni dieses Jahres begonnen werden soll, sondern von jener Weltenmaschine aus „Contact“, dem Science-fiction-Roman des Astronomen Carl Sagans – letztes Jahr mit Jodie Foster in der Hauptrolle verfilmt –, deren Baupläne in geheimnisvollen Funksprüchen aus dem Weltraum verschlüsselt waren.
Die Internationale Raumstation (IRS), mit deren Zusammenbau am erdnahen Himmel im Sommer begonnen wird, mutet nicht minder phantastisch an als ihre literarischen Vorbilder und futuristischen Entwürfe – und ist doch zugleich deren Grablegung. Denn was heute am erdnahen Himmel zusammengebaut wird, hat nicht nur äußerlich kaum noch Ähnlichkeit mit dem Menschheitstraum einer Himmelsburg, mit jenem Luftschloß, dessen erste Entwürfe ins 19. Jahrhundert zurückreichen.
Die erste Vision einer Raumstation entwarf vor ziemlich genau hundert Jahren 1897 der deutsche Romanautor Kurt Laßwitz in einem Zukunftsroman. Der deutsche Ingenieur und Vater der Raumfahrt, Hermann Oberth, griff die Idee auf. „Die Rakete zu den Planetenräumen“ erschien 1923 und ist im Kern ein wissenschaftliches Werk, in dessen zweitem Teil der Autor seiner Phantasie freien Lauf läßt. Er entwirft eine Rakete, die, in eine Umlaufbahn um die Erde gebracht, eine Art Miniaturmond abgeben soll, einen „Weltraumbahnhof“, von dem aus die weitere Erkundung des Alls starten könnte. Oberths Raumstation enthielt schon alle Elemente späterer Pläne. Sie diente gleichermaßen der Untersuchung der Erde und des Himmels, der Durchführung wissenschaftlicher Experimente und dem Test der Überlebensfähigkeit des Menschen im Weltraum – sie diente vor allem als Sprungbrett zu dessen weiterer Erkundung.
Zu Hermann Oberths Schülern gehörte Wernher von Braun, der Raketenbaumeister der Nazis, der nach dem Krieg für die amerikanische Nasa arbeitete. In einem 1952 erschienenen Illustriertenartikel entwarf Braun erstmals für ein großes Lesepublikum die Idee einer Raumstation und gab ihr eine massenwirksame Gestalt. Auf diesen Entwurf ging nach Form und Funktion die Raumstation zurück, die Walt Disney in seinem Freizeitpark bei Anaheim in Kalifornien aufstellte, ebenso wie jene, die Stanley Kubrick zum Ausgangspunkt seiner „Odysee im Weltraum“ machte. Und spätestens seit der Fernsehserie „Enterprise“ ist Raumfahrt und -forschung ohne eine Raumstation nicht mehr denkbar.
Nur ist die Raumstation als Weltraumbahnhof seit 1969 und die bemannte Raumfahrt spätestens seit letztem Sommer überholt. 1969 nämlich gelang der Direktflug zum Mond ohne Zwischenlandung auf einem kosmischen Umsteigebahnhof.
Das neue Raumfahrtkonzept entwickelte auf John F. Kennedys Anweisung dessen Vize Lyndon B. Johnson. Der Mondflug war Amerikas Antwort auf die Herausforderung der Sowjetunion, die 1957 mit Sputnik 1 und 2 zwei Satelliten und mit Jurij Gagarin erstmals einen Menschen in die Umlaufbahn geschossen hatte. Raumfahrt wurde zum Bestandteil des Kalten Kriegs.
Die Nasa gab die Idee der Raumstation als zeitzehrenden Umweg auf – ungern zwar –, ahnte aber, daß sie damit an das Konzept von Raumfahrt rührte, das menschliche Phantasie und Sehnsucht seit Jahrzehnten, gar Jahrhunderten entwickelt hatte: „Der Flug zum Mond wird gelingen“, sagte Hans Mark, damaliger Vizedirektor der Nasa, „aber er wird die USA ohne Infrastruktur zur weiteren Eroberung des Raums zurücklassen. Der Mondflug ist eine Sackgasse.“
Für Lyndon B. Johnson aber waren Ausgaben für Raumfahrt der Testfall auf Sozialausgaben. Konnten Kongreß und Öffentlichkeit für eine kollektive Anstrengung zur Eroberung des Himmels gewonnen werden, bestand Aussicht auf Bewilligung von Programmen zur Bekämpfung der Armut auf Erden.
Zeitweilig schien die Idee der Raumstation in der sowjetischen Raumfahrt zu überleben. Deren Raumkapseln Sojus (seit 1981) und Mir (seit 1986) schafften eine dauerhafte Präsenz im erdnahen Weltall. Für Sensationen aber sorgte nicht die bemannte, sondern die unbemannte Raumfahrt. Explorer, Mariner, Viking, Pioneer und Voyager sowie Galileo und das Raumteleskop Hubble lieferten neue Erkenntnisse über Erde und Weltall.
Während letzten Sommer von der russischen Raumstation Mir eine Katastrophe nach der anderen gemeldet wurde, landete Pathfinder den Roboter Rover auf dem Mars, und Abertausende konnten im Internet die ersten Nahaufnahmen der Marsoberfläche sehen. Die Marsmission kostete 250 Millionen Dollar, ein bescheidener Betrag, verglichen mit der halben Milliarde, mit der die USA die Mir unterstützte.
„Das ist High-Tech-Sozialismus“, hatte schon Ronald Reagans Haushaltsminister David Stockman über die Raumstation geurteilt – ein spätes Echo auf Lyndon B. Johnsons Hoffnung. „Die USA werden ihren beträchtlichen Vorsprung in der Robotertechnologie verlieren, wenn wir uns auf diesen Unsinn einlassen.“ Doch ausgerechnet Ronald Reagan war es, der für die Analogie vom Weltraum als der neuen Frontier und den Astronauten als neuen Pionieren anfällig war. Nachdem er 1983 einer staunenden Weltöffentlichkeit seine Idee von einer weltraumgestützten Raketenabwehr – Star Wars – vorstellte, wartete er ein Jahr später mit der nächsten Überraschung auf: „Ich habe die Nasa angewiesen, eine dauerhafte menschliche Präsenz im All anzustreben und in Kooperation mit interessierten ausländischen Partnern eine Raumstation zu bauen.“
Mit Reagans Entscheidung war die Nasa am Ziel ihrer Wünsche. Nachgeholfen hatte ein Trick: Der Space Shuttle. Die Entwicklung dieses wiederverwendbaren Raumschiffes sollte die Raumfahrt gegenüber der Verwendung der Einmalrakete verbilligen. In seinem Laderaum sollte es Satelliten aller Art und Beobachtungsstationen wie zuletzt Neurolab befördern. „Das ist ungefähr so sinnvoll, wie eine Postkarte in einen gußeisernen Safe zu packen, bevor man sie der Post anvertraut“, rechnet der Astronom Timothy Ferris vor. Statt ein Viertel der Kosten der inzwischen verschrotteten Saturnraketen verursachte der Shuttle die fünffachen Kosten.
„Bemannte Raumfahrt und Raumstation sind eher eine romantische Rückbesinnung als eine Zukunftsvision“, erklärt Howard McCurdy, Wissenschaftssoziologe an der American University in Washington und Historiker der Nasa. „Sie verlängern die Geschichte der Entdecker in den Himmel, wobei der Raumstation die Rolle des Forts bei der Eroberung des Wilden Westens zugewiesen wird.“ Alle bisherigen Visionen einer Raumstation sahen sie als Sprungbrett zu fernen Sternen.
Die jetzt geplante Internationale Raumstation aber ist ein Forschungslabor in erdnaher Umlaufbahn, das sich die sogenannte „Mikrogravität“, die Beinahe- Schwerelosigkeit, für wissenschaftliche Experimente zunutze macht. Man erhofft sich neue Materialien, neue Medikamente und neue Verbrennungstechniken.
„Dreißigtausend Erzeugnisse und Dienstleistungen hat die Raumfahrt der Menschheit beschert“, schwärmt Louis Sullivan, ehemaliger Sozialminister der Bush-Regierung und heute Direktor der Raumfahrtlobby HOME (Harvesting Opportunity for Mother Earth), „viele davon im medizinischen Bereich. Dazu gehören zum Beispiel die Artheroskopie und die Telemedizin.“
Louis Sullivan gibt unumwunden zu, daß der Gesundheit der meisten Amerikaner eher mit Staatsausgaben zur Entwicklung eines umfassenden Krankenversicherungswesens als mit der Weiterentwicklung der Telemedizin gedient wäre, doch „es ist letztlich immer noch leichter, im Kongreß Ausgaben für die Raumfahrt als Sozialausgaben durchzusetzen“. Die Hoffnungen des Reformers Lyndon B. Johnson haben sich nicht erfüllt.
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