: Die beiden Gesichter von Nazareth
In der israelischen Stadt mit dem höchsten Anteil an Arabern werden unterschiedliche Jubiläen gefeiert. Die Palästinenser bereiten sich auf den 2000. Jahrestag der Geburt Christi vor ■ Von Antje Bauer
Auf den Spielplätzen von Nazareth Illit turnen kleine Kinder unter der Aufsicht ihrer Mütter. Alte Männer in abgewetzten Windjacken und Frauen mit Häkelmützen sitzen auf den Bänken und plaudern. Wie viele andere rumänische Juden ist der Schriftsteller Mircea Saucan hierhergezogen, weil die israelische Regierung günstige Wohnungen anbot, weil es still war und friedlich und weil man hier Ceaușescu vergessen konnte. „Hier ist die große Freiheit“, meint der alte Saucan, „ich habe es nie bereut, hergekommen zu sein. Hier ist mein Zuhause.“
Nazareth Illit, zu deutsch Obernazareth, feiert dieses Jahr gleich zwei Jubiläen: den 50. Jahrestag des Bestehens des Staates Israel und den 40. Jahrestag der Gründung der Stadt. Die Gemeindeverwaltung – fest in Labour-Hand – hat aus diesem Anlaß ein Büchlein herausgegeben, in dem fröhlich tanzende Kinder und junge Arbeiter in modernen Fabriken abgebildet sind sowie Immigranten mit Koffern in der Hand, die vom Bürgermeister herzlich begrüßt werden. 50.000 Menschen leben in Obernazareth, die Hälfte davon sind in den vergangenen zehn Jahren aus Rußland eingewandert.
120 Seiten umfaßt der Jubiläumsband. Doch nur zwei Seiten sind dem eigentlichen, dem historischen Nazareth gewidmet. Dabei sind von den Hügeln der Neustadt aus die Kirchtürme und Minarette inmitten der verschachtelten sandfarbenen Altstadt gut zu erkennen. „Alt-Nazareth zieht viele christliche Pilger an“, heißt es in dem Werbeband lapidar, mehr hat Obernazareth dazu nicht zu sagen. Der Grund liegt auf der Hand: In Alt-Nazareth leben Palästinenser – es ist die größte arabische Stadt innerhalb Israels. Die Verwaltung der Oberstadt ist von der des alten Nazareth getrennt. Sie hat einen eigenen Bürgermeister, eigene Stadträte, eigene Schulen und getrennte Einkünfte. Doch die Vizebürgermeisterin Edna Rodrig, eine agile Frau in den Fünfzigern, deren Familie aus dem ehemals russischen Galizien stammt, betont: „Es gibt eine gute Beziehung zwischen den Städten, wir leben sehr friedlich miteinander. Es gibt keine Spannungen zwischen der Bevölkerung von Nazareth und Nazareth Illit.“
Nur fünf Minuten dauert die Fahrt mit dem Bus von der Oberstadt ins Tal. Jüdische Frauen mit Einkaufstaschen steigen zu – Lebensmittel sind im alten Nazareth billiger als oben. Der Busfahrer ist Palästinenser, denn die öffentlichen Verkehrsbetriebe werden von Arabern geführt. Verständigungsprobleme gibt es nicht: Die Fahrer sprechen hebräisch. Auf die idyllische Ruhe in der Oberstadt folgt unten ohrenbetäubender Lärm. Die Hauptstraße ist der Länge nach aufgerissen. Bagger und Preßlufthämmer machen sich Konkurrenz, daneben wälzt sich eine endlose, hupende Autokolonne durch den Staub. „Hier wird gebaut für Nazareth 2000“, steht auf Tafeln geschrieben, in großen hebräischen Lettern und kleinen arabischen darunter.
Nazareth feiert andere Jubiläen als Obernazareth. Für die Oberstadt spielt der 2000. Jahrestag der Geburt Christi keine wichtige Rolle. Die Feier zur Gründung des Staates Israel, die Nazareth Illit begeht, ist hingegen in Alt-Nazareth Anlaß zum bitteren Gedenken. Denn die Besetzung Galiläas durch israelische Truppen löste die massenhafte Flucht von Palästinensern aus. 10.000 flohen allein nach Nazareth, das damals nur 12.000 Einwohner hatte. „Nazareth war auf solch einen Strom von Leuten nicht vorbereitet“, erinnert sich der 75jährige Sami Geraisy, der damals für internationale Hilfsorganisationen arbeitete. „Mehrere Jahre lang lebten sie in Kirchen, Klöstern und Schulen. Das waren harte Zeiten.“
Die massive Zuwanderung von Flüchtlingen nach Nazareth ist der Stadt auch heute noch anzusehen. Während in Obernazareth Grünflächen die Häuserblocks umgeben, sind im Zentrum im Tal die ein- bis zweistöckigen Häuser aneinandergebaut, die engen Gassen nur notdürftig ausbetoniert. Allein in den Klostergärten gibt es Grünflächen, die Jugendlichen spielen auf Hausdächern Fußball.
64.000 Einwohner hat die Stadt. Und das Platzproblem hat sich seit 1948 ständig verschärft. Durch das Abwesenheitsgesetz, das die israelische Regierung 1950 verabschiedete, verloren die Flüchtlinge, die 1948 ihr Land zurückgelassen hatten, jedes Anrecht auf ihr Eigentum. Eine Rückkehr derer, die sich nach Nazareth geflüchtet hatten, war also meist nicht möglich. Sami Geraisy meint denn auch: „Das Leben in den besetzten Gebieten war nicht leicht. Aber wir, die hier im Staat Israel geblieben sind, hatten es schwerer.“
Nicht immer verströmen historische Stätten eine besondere Atmosphäre. Die Gründung Nazareths reicht zwar mehr als 2.000 Jahre zurück, doch ist davon wenig zu spüren. Das Stadtbild gleicht dem anderer arabischer Kleinstädte: enge Läden, in denen Gemüse, Haushaltwaren oder Couchgarnituren verkauft werden, Garküchen, Juweliergeschäfte und der nie endende Verkehr. Die Mehrheit der Bevölkerung ist christlich, jedoch sind die Muslime aufgrund ihrer höheren Geburtenrate demographisch auf dem Vormarsch.
Christliche Stätten bilden die Haupttouristenziele Nazareths. Der wichtigste Ort ist die Verkündigungskirche, die vor einigen Jahrzehnten an der Stelle gebaut wurde, an der angeblich Mariä Verkündigung stattfand. Eine Million Touristen kommen jedes Jahr. Doch anders als sonst in Touristenzentren scheint die dazugehörige Wirtschaft zu fehlen. In den wenigen Andenkenläden im Stadtzentrum verstauben Porzellanmadonnen und Stadtführer. Und der renovierte, helle Basar ist so menschenleer, daß viele Händler ihre Läden gar nicht erst öffnen.
Für Soheil Diab, den Vizebürgermeister der Stadt, tragen die israelischen Behörden die Schuld am mangelnden Geschäft: „Das Programm der israelischen Regierung und der Tourismusbüros besteht darin, Nazareth als eine Durchgangsstation darzustellen, so daß die Touristen für zweieinhalb Stunden hierherkommen, zwei Kirchen sehen und dann nach Tiberias fahren, um dort zu essen.“ Auch sonst wird Nazareth von der israelischen Regierung benachteiligt. Laut Diab erhält die Stadt pro Einwohner nur gut die Hälfte an staatlichen Geldern, die vergleichbare jüdische Städte bekommen.
Viele Einwohner arbeiten im Umland in Industriebetrieben, andere haben in der Stadt Restaurants, Hotels oder kleine Werkstätten eröffnet, die nicht nur von den Palästinensern der angrenzenden Dörfer, sondern auch von den Juden aus Obernazareth gerne genutzt werden, da sie billiger sind und überdies am Samstag geöffnet haben, wenn der jüdische Schabbat Obernazareth lahmlegt. Die Wirtschaft basiert traditionell auf kleinen Familienunternehmen. Doch manche Firmen sind groß geworden. Das Basat-Unternehmen etwa, eine Baufirma, die nicht nur in ganz Israel, sondern auch im Ausland, etwa in Osteuropa, tätig ist.
Eine unscheinbare Glastür führt in das großzügige Büro von Badia Tannous, dem Eigentümer. Tannous spricht kein Englisch, aber dafür hervorragend Hebräisch und wechselt während des Gesprächs fließend zwischen seiner Muttersprache Arabisch und dem Hebräischen hin und her. In seiner Firma arbeiten sowohl Palästinenser als auch Juden; sein Hauptbuchhalter Schlomo Raviv ist Jude. Ein Modellbeispiel also für ein mögliches Zusammenleben. Doch anläßlich der Frage, wie die jüngere Geschichte zu beurteilen sei, geraten sich die beiden unvermittelt in die Haare: Während Raviv anführt, die Juden hätten in den 40er Jahren immerhin keine Autobomben fabriziert und sich bei Terrorakten vor allem an die britischen Besatzer gehalten, hält ihm Tannous empört das Massaker im arabischen Dorf Deir Yassin entgegen. Wenn es um die jüngere Vergangenheit geht, werden die alten Wunden sichtbar.
Die Eingliederung Nazareths und seiner Umgebung in den Staat Israel versetzte seine arabischen Bewohner in einen Zwitterstatus: Sie sind Palästinenser und gleichzeitig israelische Staatsbürger. Während der Intifada blieb es in Nazareth so ruhig, daß der jüdische Schriftsteller Saucan bereits die Frage nach Auseinandersetzungen höchst erstaunlich findet. „Hier? Ach wo. Hier war keine Intifada.“ Die Palästinenser mit israelischem Paß sind denn auch häufig von ihren Landsleuten in den besetzten Gebieten als Verräter beschimpft worden. Doch sie selbst reklamieren für sich einen Sonderstatus.
Nabila Espanioly hat in Haifa und Bamberg Psychologie studiert, ist Stadträtin von Nazareth und leitet ein Zentrum für Kinderpsychologie. „Wir sind zwar Teil des palästinensischen Volks, aber wir leben unter unterschiedlichen Bedingungen. Wir kämpfen um Gleichberechtigung innerhalb dieses Staats. Das ist unsere Heimat. Wer verläßt denn seine Heimat?“
Doch das mit der Heimat ist schwierig. Denn auch nach dem Abwesenheitsgesetz setzten die israelischen Behörden ihre Landnahme fort. Während die palästinensischen Orte unter Platzmangel und Bebauungsverboten leiden, wird für jüdische Siedlungen und Industrieanlagen Land beschlagnahmt. Palästinensisches Land. Auch Nazareth Illit ist so entstanden. Da es aber eine offene, tolerante Siedlung ist, dürfen dort auch Palästinenser Wohnungen mieten. Vor allem junge Paare nutzen diese Möglichkeit. Palästinenser stellen ein Zehntel der Bevölkerung von Obernazareth.
Nabila Espanioly etwa wohnt hier, weil sie in der Unterstadt keine Wohnung fand, wie sie sagt. Vielleicht auch, weil die konservative palästinensische Gesellschaft nicht ohne weiteres toleriert, daß eine Frau allein lebt. „Aber ich schlafe hier nur. Mein tatsächliches Leben findet unten statt. Hier fühle ich mich nicht zugehörig“, versichert sie. So entsteht hier eine Art Schattenheimat der Palästinenser: eine Rückkehr an einen Ort, der einmal ihrer war und es nicht mehr ist. Noch ist die Geschichte dieses Verlustes zu nah, um zu vergessen.
Mohammed Zeidan, der Koordinator der „arabischen Vereinigung für Menschenrechte“, mußte feststellen, daß er von seiner neubezogenen Wohnung aus ein Gebiet sah, das noch vor wenigen Jahren seinem Vater gehört hatte. „Mein Vater bearbeitete dieses Land, wir durften dort nicht bauen. Dann haben sie es konfisziert, und automatisch ist es zu Bauland geworden“, sagt er wütend. „Mein Vater hat mich einmal besucht, und er bekam fast einen Herzanfall. Er ist nie wieder gekommen.“
Im Rathaus von Obernazareth ist man stolz darauf, hier Palästinenser wohnen zu lassen. Daß diese „Gäste“ eine bittere Geschichte mitbringen, wird als störend empfunden. „Es ist sehr bedauerlich“, klagt Vizebürgermeisterin Edna Rodrig, „daß ein extremistischer Teil der Araber meint, der 50. Jahrestag der Gründung Israels sei ein trauriger Tag. Dadurch wird nichts besser.“ Aber ob es besser wird durch verordnetes Vergessen?
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