„Für die Solidarität im öffentlichen Raum“

■ Zur Debatte über das Handlungskonzept St. Georg des rot-grünen Senats: Hamburgs Polizeipräsident Ernst Uhrlau über die politische Diskussion und den polizeilichen Alltag

Was würde passieren, wenn die Stadt das Stadtviertel St. Georg oder den Hauptbahnhof mit seiner zentralen Funktion für den ÖPNV und die Stadt der Drogenszene überließe? Ein kleiner „Vorgeschmack“ hiervon war zu erkennen, als die Polizei einzelne Komponenten ihrer personalintensiven Maßnahmen dort im Rahmen einer Evaluierung aussetzte: Die für eine Woche geplante Aussetzung im Jahr 1996 z.B. mußte schon nach zwei Tagen wieder aufgehoben werden, weil die Drogenszene schnell um mehr als 100 Prozent angewachsen war und die Rückseite des Hauptbahnhofs mit ihren U- und S-Bahnzugängen in der Benutzbarkeit für die Öffentlichkeit erheblich einschränkte.

Senator Willfried Maier betont in seinem Beitrag in der taz hamburg vom 18.5.98 – neben der Beschaffungskriminalität und den damit verbundenen Ängsten der Bevölkerung – einen typischen Aspekt einer offenen Drogenszene: „Gleichzeitig mildert sie nicht die Situation für die Abhängigen, sondern das Elend potenziert sich mit dem Wachstum der Szene.“ Dem ist hinzuzufügen: Die gesammelten Erfahrungen europäischer Metropolen mit der Duldung von großen, verfestigten, offenen Drogenszenen einschließlich des Drogenhandels sind ausnahmslos negativ – sowohl für die betroffene Wohnbevölkerung im engeren und mittleren Umkreis als auch vor allem für die unter rapide zunehmender Gewaltkriminalität innerhalb der Szene leidenden Drogenabhängigen.

Die Szenen entfalten – überläßt man sie sich selbst – mit Hilfe des „Supermarkt-Effekts“ interregionale und z.T. internationale Sog- und Eskalationseffekte, die unkontrollierbar werden. Die schrecklichen, die Zerstörung von Menschenwürde zeigenden Bilder aus der offenen Züricher Drogenszene am Platzspitz bzw. am Letten haben dies exemplarisch deutlich gemacht. Zürich hat hieraus Konsequenzen in Richtung einer drogenpolitischen Reformoffensive gezogen – mit medizinisch kontrollierter Drogenverschreibung an Schwerstabhängige, aber gleichzeitig konsequentem polizeilichem Vorgehen gegen in- und ausländische Dealer. Eine ähnliche Veränderung der bundesdeutschen Drogenpolitik strebt – wie in der diskutierten Drucksache ausführlich dargestellt – der Hamburger Senat an.

Obwohl zunächst „nur“ Problemreduzierung und keine Problemlösung: Zur Dekonzentration offener Drogenszenen besteht keine reale – auf Dauer von politischen Mehrheiten getragene – Alternative. Das Warten auf die globale Abschaffung jeglicher Prohibition von Betäubungsmitteln kann keine Alternative sein.

Ein anderer Aspekt ist durch die Diskussion ebenfalls deutlich geworden: Eine sozial verträgliche und die Rechte aller Passanten schützende Gestaltung des Zusammenlebens im öffentlichen Raum erfordert – insbesondere an stark frequentierten Orten wie dem Hauptbahnhof – Mindeststandards von Verhaltensregeln. Hierzu gehört der Verzicht auf Belästigungen, Nötigungen oder das Versperren von U-Bahn-Eingängen. Die Einhaltung dieser Regeln ist von allen Beteiligten zu fordern. Neben umfassenden Hilfsangeboten für die verschiedenen von Obdachlosigkeit oder Sucht betroffenen Szeneangehörigen ist andererseits auch eine Verletzung der erwähnten Regeln angemessen zu sanktionieren, will man langfristig eine Verödung der Innenstadt oder ein „Umkippen“ von Stadtvierteln – mit allen sozialen und politischen Implikationen – vermeiden.

Drogenschwerstabhängige, die Therapien abgebrochen und Hoffnungen verloren haben, beginnen ein neues Leben und integrieren sich schrittweise in Familien, neue Freundeskreise und – zunächst niedrigschwellige – berufliche Bezüge. Menschen, die nicht die Kraft zum nachhaltigen Ausstieg aus der Sucht aufbringen, verlassen den Teufelskreis aus Verelendung, Beschaffungskriminalität und -prostitution. Die Drogengewinne – vom Kartellchef bis zum Straßenhändler – schmelzen spürbar, die offenen Drogenszenen und die Beschaffungskriminalität nehmen ab, die Anzahl der Drogentoten verringert sich ebenfalls. Gesellschaftliche Ressourcen und Personal aus den Bereichen der Drogenhilfe und der polizeilichen Drogenbekämpfung können für andere dringende Aufgaben eingesetzt werden.

Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag ziehen an einem Strang und machen die Bundesrepublik zu einem drogenpolitischen Modell für die Europäische Union, deren Mitgliedsstaaten nach sorgfältiger Prüfung der Erfahrungen in der Schweiz, den Niederlanden und der Bundesrepublik Teile der entsprechenden Konzepte übernehmen.

Nur ein Traum? Ja und nein. Wenn es gelingt, die Bürgerinnen und Bürger, ihre Mehrheiten, aber auch die konstruktive Wirkung von Minderheiten hierfür zu gewinnen, muß es keiner bleiben. Eine von mehreren Voraussetzungen für die Akzeptanz mutiger drogenpolitischer Reformschritte ist die Gewährleistung eines Mindestmaßes an öffentlicher, auch subjektiver Sicherheit; hierfür leistet die Polizei auch und gerade am Hauptbahnhof eine unverzichtbare Arbeit.

Eng verknüpft mit einer erforderlichen Verbesserung der subjektiven wie objektiven Sicherheit ist die Wiederbelebung der Solidarität im öffentlichen Raum, z.B. mit der Verminderung der Haltung des Wegschauens, wenn Mitmenschen Opfer von Straftaten werden. Hierzu hat die Polizei – mit unerwartet hoher positiver Resonanz – die Kampagne „Wer nichts tut, macht mit“ gestartet.

Die Fähigkeit, diese Grundwerte Gerechtigkeit, Menschenwürde und Solidarität – hinzuzufügen ist der Grundwert der Freiheit – individuell oder gemeinsam zu leben, hängt auch vom Zustand der öffentlichen Sicherheit, der Freiheit von Angst und Gewalt und damit auch vom Sicherheitsgefühl der Menschen ab.