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Schmelztiegel Berlin

■ Multikulturelle Realität: Ein Viertel aller Eheschließungen ist binational, jedes sechste Kind stammt aus binationaler Beziehung

Auch wenn Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) davon nichts wissen will – in Berlin ist die multikulturelle Gesellschaft längst Realität: Jede vierte Ehe wird schon von binationalen PartnerInnen geschlossen. Jedes sechste Kind aller ehelich Geborenen hatte im gleichen Zeitraum ein deutsches und ein ausländisches Elternteil.

Der Verband binationaler Familien und Partnerschaften (Iaf) präsentierte gestern diese Zahlen, die auf Erhebungen des Statistischen Landesamtes basieren. „Die Fakten zeigen, daß Menschen, die in dieses Land kommen, einen stärkeren Integrationswunsch haben, als vermutet wird“, sagte die Verbandsvorsitzende Brigitte Wießmeier. Und: „Die Berliner wollen ein globaleres Leben, als es von der Politik in der Öffentlichkeit immer wieder verlautbart wird.“

1996 – neuere Zahlen sind bisher noch nicht ausgewertet – gab es insgesamt 15.813 Eheschließungen. 1.993 davon wurden von ausländischen Männern mit deutschen Frauen, 1.900 von ausländischen Frauen mit deutschen Männern geschlossen. 1996 waren es erst 22 Prozent binationale Eheschließungen, außerdem heirateten in den vergangenen Jahren mehr deutsche Frauen ausländische Partner als umgekehrt.

Spitzenreiter ist der Bezirk Kreuzberg. Auf dem dortigen Standesamt waren 1996 knapp 50 Prozent der Heiraten binational. Köpenick lag ganz hinten: Dort waren es nur acht Prozent der Eheschließungen. Wie viele Ehen in Berlin derzeit überhaupt bestehen und wie viele davon insgesamt binational sind – darüber liegen laut Statistischem Landesamt keine Angaben vor.

Deutsche Frauen heirateten überwiegend Türken und Männer aus Exjugoslawien. Dies zeige, daß deutsche Frauen ihre Männer vorwiegend unter den Migranten wählten, so Wießmeier. Deutsche Männer heirateten am häufigsten Polinnen, Rumänierinnen und Thailänderinnen. „Hinter den deutsch-polnischen Heiraten verbergen sich häufig Aussiedler, die sich eine Polin aus dem Heimatland holen“, sagt Wießmeier. Deutsche binational verheiratete Männer bevorzugten ein „konservatives Familienmodell“.

Wie viele der binationalen Ehen als Zweckehen beispielsweise zur Erlangung eines Aufenthaltstitels oder als Zwangsehenen geschlossen wurden, kann Wießmeier nicht sagen. „Wir werden damit nur selten konfrontiert“, sagte die Iaf- Vorsitzende. Der Verband berät zu aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Fragen, hilft aber auch bei Beziehungs- und Ehekrisen.

Wolfgang Wieland, innenpolitischer Sprecher der Bündnisgrünen, begrüßte die hohe Zahl der binationalen Eheschließungen. Dies zeige, daß Berlin bereits „definitiv eine multikulturelle Stadt sei“ und wies damit auch die jüngsten Äußerungen von Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) zurück, der Anfang der Woche in einem Interview gesagt hatte, daß sich in Deutschland keine multikulturelle Gesellschaft entwickeln dürfe. Auch der innenpolitische Sprecher der SPD, Hans-Georg Lorenz, sagte gestern, die Zahlen bewiesen, daß es einen „echten Zuzug gebe“, und daß „Berlin eine Einwanderungsstadt“ sei. Der ausländerpolitische Sprecher der CDU, Roland Gewalt, bezweifelte dagegen, daß die geforderte „gegenseitige Toleranz“ und das „kulturelle Nebeneinander“ von Deutschen und Nicht-Deutschen durch binationale Ehen gefördert werde. Denn Heiraten habe eher etwas mit dem ganz privaten Bereich zu tun. Julia Naumann

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