■ Vorschlag: Fluch der Flexibilität – Richard Sennett über den neuen Kapitalismus
Für die Klappentextprosa des Berlin Verlages ist er kurz der „bekannteste Theoretiker unserer Zeit“. Peter Glotz mutmaßt, daß sein neues Buch, „Der flexible Mensch – Die Kultur des Neuen Kapitalismus“, das „Zeug zum Klassiker“ hat. Die Liste huldigender Ehrerbietungen war lang in diesem Bücherfrühling. Dabei hat der amerikanische Soziologe Richard Sennett, dessen veritabler Klassiker „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität“ bereits Anfang der achtziger Jahre erschienen war, kaum mehr getan, als in saloppem Plauderton ein paar Überlegungen zu Lebensläufen von Menschen aus seiner nächsten Umgebung anzustellen.
Der Sohn des Hausmeisters Enrico, die Wirtin Rose aus Sennetts Lieblingsbar „Trout“ in Manhattan, die Arbeiter einer Bostoner Brotfabrik, sie alle leiden an einem Phänomen, das Sennett kurz den Drift nennt. Der Neue Kapitalismus, der seine Teilnehmer zu gesteigerter Flexibilität anhält, unterläuft die Ausbildung von kontinuierlichen und lesbaren Arbeitsbiographien. Wo man gezwungen wird, die Erwerbsbiographie wie Hemden zu wechseln, gerät Arbeit, noch immer die wichtigste gesellschaftliche Ressource zu Gestaltung von Lebensläufen, mehr und mehr zur Glückssache.
Niemand scheint mehr verantwortlich zu msein für die Schicksalsschläge, die er erzeugt. In Zeiten von Teilzeitarbeit und Outsourcing fällt es den Menschen immer schwerer, „ihre Charaktere zu durchhaltbaren Erzählungen zu formen“. Wo Politiker einen Ruck herbeiwünschen und vom Wirtschaftsbürger mehr Mobilität fordern, bringt Sennett mit predigendem Eifer noch einmal das kapitalistische Regime als Ganzes auf die Anklagebank. „Ein Regime, das Menschen keinen tiefen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten.“ Heute abend wird es Zeit, den starken Sätzen ein paar Konkretionen hinzuzufügen. Heinz Bude vom Hamburger Institut für Sozialforschung (und mit der Soziologie des Schicksals hinreichend vertraut) wird sich gewiß nicht mit knackigen Formeln zufriedengeben. Es könnte ja sein, daß sich Sennett noch nicht ausreichend mit der „Berliner Ökonomie“ vertraut gemacht hat, jenen vielfältigen Formen gelingenden Scheiterns und gewinnenden Verlierens. Harry Nutt
20 Uhr, Schleichers Buchhandlung, Königin-Luise-Straße 40–41
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