: „Die Idioten lassen mich nicht leben“
Am 1. Juli wird Codein als Ersatzstoff für Heroinsüchtige bis auf wenige Ausnahmen per Gesetz verboten. Abhängige, die bislang mit Codein ein geregeltes Leben führen, geraten in Not. Alfred Merker ist einer von ihnen ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler
„Ich merke schon wieder, daß der Dämon Heroin zu mir herübergrinst“, sagt Alfred Merker*, als suche er an starken Worten Halt gegen seine Mutlosigkeit. Er streicht sich durch sein strähniges Haar. Da sitzt er nun mit seinen 38 Jahren in einer Dreizimmerwohnung in einem Nürnberger Vorort. Und fürchtet sich vor dem 1. Juli. Dann wird sich sein „normales Leben“ unwiderruflich ändern. Alfred nennt es „normal“, weil es geregelt ist. Das, was seinen Alltag „normal“ macht, steht im Kühlschrank. Es ist eine braune Viertelliterflasche mit roter Verschlußkappe. Der Inhalt: Codein. 15 Milliliter von der Flüssigkeit am Morgen eingenommen, und für Alfred endet ein tägliches Martyrium, „die Gier nach Heroin“.
Aber eben nur bis zum 1. Juli. Danach dürfen Ärzte Codein nur mehr in extremen Ausnahmefällen an Abhängige verschreiben. Die bislang bundesweit in etwa 30.000 Fällen praktizierte Drogensubstitution mit dem Opiat ist dann per Gesetz unterbunden, eine entsprechende Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ist am 1. Februar dieses Jahres mit einer Übergangsfrist in Kraft getreten.
Drogenberatungsstellen wie die Nürnberger „Mudra“ rechnen damit, daß Substituierte nach dem 1. Juli wieder vermehrt zum Heroin greifen. „Viele Ärzte haben schon seit Februar nichts mehr verschrieben, und die Spritzenabgabe hat sich in den letzten Monaten um 50 Prozent erhöht“, sagt Heinz Ausobsky. Der 43jährige stellvertretende Leiter der Mudra arbeitete acht Jahre als Streetworker in der offenen Drogenszene und weiß, wo der Heroinkonsum endet.
„Die hängen dann so auf der Straße rum“
Alfred weiß das auch: „Die hängen dann so auf der Straße rum.“ Er läßt das Kinn auf die Brust sinken, während er Arme und Beine scheinbar vor Schmerzen an den Körper heranzieht. „Jeder Schuß bringt einen dem Tod näher.“ Mit 18 Jahren hat Alfred angefangen zu kiffen. Mit 20 probierte er zum ersten Mal Heroin. Vier Jahre später hatte er seine Knastpremiere. Der Teufelskreislauf begann: Sucht, Gefängnis, Entzug, Therapie. Nach 14 Jahren kam Alfred vom Heroin los, dank Codein. Das war Ende 1994. Es gelang ihm, eine Arbeit zu finden. Zweieinhalb Jahre war er bei Grundig im Lager, bis seine Abteilung wegrationalisiert wurde. Früh, wenn er wie üblich mit Übelkeit aufwachte, fürchterlich schwitzte und fror, nahm er den Saft. Dann legte er sich noch mal zehn Minuten hin und war anschließend fit. „Ich bin nie zu spät gekommen.“ Und die Kollegen? „Wenn die etwas gemerkt hätten, hätten sie es bis Mittag wieder vergessen, dann hatten die ihre sechs oder sieben Bier.“
Das Codein bekommt Alfred im Parterre des Mehrfamilienhauses, in dem er wohnt. Dort hat ein Arzt seine Praxis, der ihm das Codein zwar verschreibt, es gleichzeitig aber für keine große Hilfe hält, um ein drogenfreies Leben zu führen: „Aber ein geregeltes Leben ist damit möglich, ohne ständig an die Beschaffung von Drogen zu denken“, sagt er und lehnt sich breitbeinig im Arztstuhl zurück. Und nach dem 1. Juli? „Entzug.“ Er sagt es Alfred ins Gesicht und zuckt mit den Achseln. Einen anderen Rat hat er nicht. „Aber ich will nicht mehr spritzen“, sagt Alfred. „Ich weiß gut, wie das war, als ich richtig schußgeil war.“
In seiner Wohnung wohnt er mit seinem 81jährigen Vater zusammen. Ursprünglich stammt Alfred aus Karlsbad, von wo er mit seinen Eltern 1966 als Sechsjähriger in den Westen flüchtete. Die Unterschiede könnten größer nicht sein: hier die Couchgarnitur, Gardinen und das Wohnzimmerbuffet. Dahinter düstere Poster in Alfreds Reich, überquellende Aschenbecher, Coladosen und Essensreste auf dem Tisch, Zigarettenkrümel auf dem Bett, und der Fernseher läuft penetrant. Trotzdem. Das Zusammenleben mit dem Vater klappe gut, meint Alfred. Sie kämen einander nicht in die Quere. Den Einkauf teilen sie sich. Wöchentlich 60 Mark berappt Alfred für sein Codein.
Wirklich stolz ist er darauf, daß er sich trotz allem in die Welt der Computer eingearbeitet hat. Zwei PCs stehen da. Für den Privatgebrauch brennt Alfred CDs, stellt Seiten ins Internet, erstellt Computergraphiken oder macht Übersetzungen. „Englisch habe ich im Knast perfekt gelernt.“ „Ich könnte es allein schaffen“, glaubt er. Doch der Gedanke an den 1. Juli blockiert ihn. Tagelang sitzt er herum. Er kann sich nicht vorstellen, was aus ihm wird, wenn er kein Codein mehr hat. Vielleicht will er es sich auch nicht vorstellen, denn er hat Angst, eine riesige Angst: „Ich will nicht wieder auf die Straße zu den Arschlöchern. Warum lassen mich diese Idioten nicht leben?“
Mit „Idioten“ meint Alfred den Gesetzgeber. Der hatte angemahnt, die Plätze für den Entzug auszuweiten und die Substitution mit Methadon zu erleichtern.
Zwar bietet nun auch Bayern – wie die meisten Bundesländer – mehr Entzugsplätze an, doch das Methadonprogramm stagniert. Viele Ärzte machen zwar die dafür vorgeschriebene Fortbildung, doch nur wenige substituieren wirklich. Jeder einzelne Arzt dürfte etwa 20 Patienten, in Ausnahmefällen 50, übernehmen.
Besonders in ländlichen Gegenden aber sind die wenigen Ärzte, die substituieren, überlaufen. Im Umkreis von 40 Kilometern ist der Allgemeinarzt Hermann Schweiger aus Feuchtwangen der einzige. Vor elf Jahren hat er mit der Substitution begonnen. „Am Anfang waren es vier bis fünf, jetzt sind es etwa 80 Patienten, da bleiben dann schnell die anderen Patienten weg“, sagt der 44jährige. Schweiger kann dies nur machen, weil er mit Kollegen eine Gemeinschaftspraxis unterhält, denn finanziell ist für einen gewissenhaften Arzt die Substitution schnell ein Minusgeschäft. „Jeder Termin bedeutet auch eine psychotherapeutische Beratung, das braucht Zeit.“
Für Schweiger ist die Gesetzesänderung wenig zukunftsorientiert: „Ein bislang einigermaßen funktionsfähiges Vorgehen wird mit einem Mal kriminalisiert.“ Die Begründung der Gesetzesänderung mit einer Reihe von Todesfällen aufgrund des Codein-Mißbrauchs hält er sogar für fadenscheinig: „Bei den Todesfällen war immer Valium und Alkohol zusätzlich zum Codein im Spiel. Opiatsucht ist eben immer eine lebensgefährliche Erkrankung.“
Heinz Ausobsky von der „Mudra“ weiß aus informellen Gesprächen, daß vor allem die Standesorganisation der Ärzte und die Kassenärztliche Vereinigung auf die Gesetzesänderung gedrängt hätten. „Dealer in Weiß“, also Ärzte, die leichtfertig Codein auf Privatrezept verschreiben, hatten den Ruf der Mediziner in Gefahr gebracht. In München wurden im Oktober 1997 mehrere Ärzte zu teilweise hohen Geldstrafen verurteilt, weil sie auf eigene Rechnung Süchtigen große Mengen an Codein verschrieben hatten. Die wiederum verkauften einen Teil des Ersatzstoffs schwarz weiter.
Ausobsky sieht es allerdings als „Armutszeugnis für die Standesorganisation“, wenn sie glaube, dem Mißbrauch nicht anders beizukommen als mit einem Medikamentenverbot.
„Apotheker sind keine Sozialarbeiter“
Das Codeinverbot stelle doch einen Eingriff in die Behandlungsfreiheit der Ärzte dar, wo bleibe denn da der „übliche laute Protest dagegen“, fragt sich auch Georg Hopfengärtner, der Nürnberger Drogenbeauftragte. Er wertet das Schweigen der Mediziner als Zeichen für ihr „schlechtes Gewissen“ in Sachen Substitution. Die Ärzte müßten in die Pflicht genommen werden, denn sie müßten die Versorgung bei der Methadonsubstitution sicherstellen.
Harald Rauchfuß, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Mittelfranken, widerspricht da vehement. „Eine Ausweitung der Methadonsubstitution sprengt den Finanzrahmen der Kassen: Sollen wir etwa zu Gunsten von Drogen auf Medikamente gegen zu hohen Blutdruck verzichten?“ Für Rauchfuß gibt es bei Drogenabhängigkeit nur eines: Entwöhnung. Alles andere sei „unärztlich“. Er befürwortet daher das Gesetz, denn es zwinge „den Patienten, Farbe zu bekennen“.
Heinz Ausobsky kann nach allen Erfahrungen, die er gemacht hat, wenig mit „Hardlinern“ wie Rauchfuß anfangen. Ein erzwungener Entzug hat eben wenig Chancen auf nachhaltigen Erfolg. Wenn Leute es schafften, mit Hilfe von Ersatzdrogen ein geregeltes Leben zu führen, sei „schon sehr viel erreicht“. Der Drogenexperte vermutet überdies, daß nach dem 1. Juli Codein aus dem Ostblock zu überhöhten Preisen auf den deutschen Markt gelangen werde. Was man dann an erhöhter Beschaffungskriminaliät wie Apothekeneinbrüchen und ähnlichem ablesen könne.
Bei Edith Müller, die seit fünf Jahren eine Apotheke am Rand der Nürnberger Altstadt betreibt, hat es zuletzt im Mai zwei Einbruchsversuche gegeben. Müller begann vor fünf Jahren damit, Codeinsaft zu mischen und gegen Rezept abzugeben. „Die Leute haben mir leid getan“, war ihre Motivation. Inzwischen ist sie desillusioniert. Neben der Geschäftsschädigung — viele Kunden blieben weg, und die Junkies klauten — hatte sie große Schwierigkeiten mit den Abhängigen. Die kamen mit gefälschten Rezepten oder bedrohten sie auf dem Weg zur Tiefgarage.
„Apotheker sind keine Sozialarbeiter“, sagt Edith Müller heute. Auch bei ihr gibt es nun kein Codein mehr. Jetzt holen sich einige Abhängige Diazepam. Von dem eigentlich leichten Beruhigungsmittel schlucken sie 50 Pillen auf einmal. „Die Leute experimentieren mit allem, sie haben ja nichts zu verlieren.“
Den Trend, auf andere Medikamente auszuweichen, konnte Heinz Ausobsky schon Anfang der 90er Jahre beobachten, als das Barbiturat Medinox verboten wurde. Neue Mittel seien jedoch „immer schlechter als alte“, warnt er, denn sie enthielten weniger Opiate, also müßten „die Dosen höher sein und damit auch die Nebenwirkungen“. Auch für Alfred Merker bietet sich kein Ausweg: „Ich kenne schon die Rote Liste fast auswendig, habe aber nichts gefunden.“
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