: Wie zu Hause bei Radio Bremen
■ Hip-Verdacht im Stundentakt: Viele etabliert gewordene Indies und einige kultige Oldies kommen und musizieren am Wochenende beim Hurricane-Fesival in Scheeßel
Während der documenta X gab es am Flußufer ein Kulturzelt. Dort lärmten des abends Kulturevents, die unter zwingendem hip-Verdacht standen. Einer davon hieß Apocalyptica. Statt alttestamentarisch zu reiten, sägten vier junge Menschen aus einem seltsamen Land namens Finnland Lieder von Metallica in die glänzenden Körper ihrer Celli. Historisch verbürgt ist es, daß einige documenta-Besucher (ich) ihre Anreise extra auf dieses Transformationsereignis hin abstimmten.
Vielleicht gelang hier der Quantensprung vom E zum U nicht gar so gut wie bei den „Kraftwerk“-Verwandlungen des legendären Balanescu-Quartetts. Aber genau konnte man das nicht sagen, dank angenehm tosender Lautstärke. Irgendwie soffen die schönen Melodien im wilden Rhythmus ab. Metal Musik wurde zu dem, was ihre schlimmsten Feinde immer beklagen: ein wüstes Gehämmer. Das war sehr schön. So schön, wie die langen blonden Haare, die über die hölzernen Klangkörper geworfen wurden. Dennoch schwankten manche (ich) eineinhalb Stunden zwischen den Apostrophierungen: Kult oder Käse. Was für eingeschworene Käseliebhaber kein Problem darstellt.
„Heather Nova“ dagegen kennen manche nur von einem der genialen rough trade-Sampler „Music for the 90th“. Ihr Lied fiel nicht nur auf wegen der einzigartig reinen und doch melancholischen, andererseits auch ekstatischen, jedoch nicht ganz ununterkühlten aber auch sehr weiblichen Stimme, sondern (uff) weil sie das Wort „Sugar“ einer Steigerungslogik unterzieht wie weiland Velvet Underground das Wort „Heroin“ (oder manche, ich, das Eisessen).
Beide Gruppen wurden von geschmackssicheren, stilbewußten Radio-Bremen-Redakteuren eingeladen zu „Absolut live“-Auftritten im Sendesaal (22. und 23. Juni, je 20 Uhr). Unser Heimatsender würde sicher gerne noch weitere Gäste des Hurricane-Festivals bei sich sehen; wenn sie nicht zu teuer wären. Denn dort treten ausschließlich Bands auf, die einerseits populär sind, andererseits Independent-Weihen aufweisen und in Niveau-Blättern wie SPEX aber auch „Spiegel“ (Björk, Chumbawamba) gewertschätzt werden. Fast nur erste Qualität wurde abgegriffen aus dem Pulk jener Musiker, die jeden Sommer Europa durchpflügen.
Nicht alles ist möglich, aber von allem etwas: Das scheint die neue, differenzierte Variante der postmodernen Idee zu sein. Sollte das Wetter schön sein – und nur dann duften die Dixi-Toiletten nach Gummibärchen – wird Scheeßel das beste deutsche Festival. Da denken sogar festivaluntauglich gewordene Menschen nach über ein Wiederaufleben alter Gewohnheiten und kramen nach dem alten, gammligen Schlafsack. bk
Samstag von 11 bis 2 Uhr im Stundenrhythmus auf zwei Bühnen auf dem Eichenring in Scheeßel unter anderen: Bell Book, Fiddlers Green, Del Amitri, Heather Nova, The Notwist, Guano Apes, Die Sterne, Iggy Pop, The Bates, Björn, Tito & Tarantula
Sonntag, von 11 bis 23 Uhr: OOMPH!, Tocotronic, Apocalyptica, Pulp, Sonic Youth, Such a surge, Garbage, Beastie Boys
Die VeranstalterInnen raten dringend, mit der Bahn zu kommen. In Scheeßel gibts einen Bahnhof, und der ist nur einen Kilometer vom Festivalgelände entfernt
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