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■ Es fing als ganz normaler Fußball-Sonntag an. Aber nach dem Abpfiff lag in Lens ein Polizist in seinem Blut, die Eskalation war da. Warum?Es ist der Hool

Es fing als ganz normaler Fußball-Sonntag an. Aber nach dem Abpfiff lag in Lens ein Polizist in seinem Blut, die Eskalation war da. Warum?

Es ist der Hool

Bis Sonntag um fünf war die Welt noch in Ordnung. Jedenfalls soweit in Ordnung, wie sie es bei Auftritten der deutschen Fußball- Nationalmannschaft im Ausland meistens ist: als ganz normaler Ausnahmezustand. Die rund tausend Polizisten in Lens hatten die Lage weitgehend im Griff, kleinere Ansätze zu Ausschreitungen wurden „besonnen und professionell“ erstickt, wie es übereinstimmend von deutschen Polizeibeamten als auch Sozialarbeitern vor Ort heißt. Und die Meldung, daß vor und nach dem Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Jugoslawien 96 Hooligans verhaftet wurden, wäre unter der Rubrik „kurz, schlecht und ist halt so“ abzubuchen.

Doch kurz nach Abpfiff der Partie, etwa gegen 17.30 Uhr, nahm die Situation eine dramatische Wende. Ungefähr 200 deutsche Hooligans suchten auf der Hauptstraße in Nähe des Stadions erneut die Konfrontation mit der Polizei. Die Gendarmen nahmen die erste Welle von Angreifern schnell und problemlos fest, der restliche Haufen zerstreute sich in Nebenstraßen. Dort muß eine Gruppe auf drei oder vier isoliert stehende Polizisten getroffen sein und diese sofort angegriffen haben. Dem 44jährigen Beamte Daniel Nivel, der bei der Schlägerei zu Boden fiel, fügten offensichtlich zwei der Angreifer durch Fußtritte schwerste Kopfverletzungen zu. Einer der Hauptverdächtigen, aus Niedersachsen angereist, wurde verhaftet, nach dem anderen wird gesucht.

Damit war eine Eskalation erreicht, die überhaupt nicht abzusehen war, obwohl es im nordfranzösischen 35.000-Einwohner- Städtchen schon am Vormittag zu kleineren Scharmützeln gekommen war. Dabei attackierten die deutschen Hooligans, fast alle ohne Karte, aber mit dem offensichtlichem Vorsatz zur Randale angereist, vor allem die Polizei, da sich weder Franzosen noch jugoslawische Fans als Gegner anboten. Sie warfen an einem Straßencafé und in der Nähe des Stadions mit Plastikstühlen und -tischen. In beiden Fällen dauerte der Gewaltausbruch nur ein oder zwei Minuten, bevor die Polizei wieder alles im Griff hatte. Die Situation in Lens war also nicht annähernd mit den stundenlangen Ausschreitungen englischer Fans in Marseille zu vergleichen.

Nach Angaben deutscher Sicherheitsbehörden in Lens wurden 614 der in der Datei „Gewalttäter Sport“ als Kategorie C (hohe Gewaltbereitschaft) registrierten Hooligans identifiziert. Besonders auffallend dabei war, wie viele von ihnen mit rechten Parolen auftraten („Wir sind wieder einmarschiert“ oder „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“). Das deckt sich mit der Beobachtung der Koordinationsstelle Fan-Projekte (KOS), die auch in Frankreich Fußballfans betreut, und dem Bündnis Aktiver Fußballfans (BAFF). Beide Organisationen hatten immer wieder ein Wiedererstarken der rechten Szene in deutschen Stadien angemahnt. In Duisburg oder Hannover wurden Mitglieder antirassistischer Fan- Gruppen und Fanzine-Macher von Rechten im Stadion bereits mehrfach bedroht.

Auch in Lens fielen bei den Ausschreitungen einige Hooligans auf, die mit Rufen wie „Los, für Deutschland!“ die Angriffslust einheizen wollten. Eine militärisch straffe Organisation, wie etwa vom Sprecher des WM-Organisationskomitees (CFO), Bruno Travade, behauptet, war allerdings vor Ort nicht zu erkennen. Zwar verständigten sich die Hooligans mit Handys immer wieder untereinander. Trotzdem machten die meisten ihrer Attacken einen eher ungeordneten Eindruck.

Die schweren Verletzungen des Polizeibeamten Nivel markieren allerdings einen Tiefpunkt in der Geschichte deutscher Fußballgewalt. Es ist immer noch kein Weg gefunden worden, die Ausschreitungen, die auf nationaler Ebene weitgehend eingedämmt sind, auch auf internationaler Ebene zu stoppen. Daß im Vorfeld der Vorfälle von Lens nicht nur die Zahl deutscher Gewalttäter bekannt, sondern sogar ihre Reiserouten an die französische Polizei weitergegeben wurden, wie DFB-Sicherheitschef Wilhelm Hennes sagte, beweist das nachdrücklich. Christoph Biermann, Lens

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