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Kulturelle Mißverständnisse

■ Die Chicano-Filmtage im 3001 präsentieren das „nördlichste Kino Lateinamerikas“ Von Tobias Nagl

Texas, 1901: Als ein mexikanischer Übersetzer ihm erklärt, daß er zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, schreit er noch einmal auf wie ein angeschossenes Tier. Dann herrscht Stille. Gregorio Cortez verläßt den Gerichtssaal, umarmt hilflos seinen kleinen Sohn, und beide schreiten weinend eine schweigende Ansammlung von Zuschauern ab, als wäre es seine eigene Beerdigungsprozession. Qualvoll lang ist diese Szene, die Robert M. Youngs Die Ballade von Gregorio Cortez (1984) mit gebührendem Melodram beendet.

Wie in John Fords Young Mr. Lincoln stand zuvor der weiße Lynchmob vor den Toren des Gefängnis, um sich Einlaß zu verschaffen und mit dem dunkelhaarigen greaser kurzen Prozeß zu machen. Doch anders als bei Ford siegt die Gerechtigkeit diesmal nicht, auch wenn das Lynchen verhindert werden kann. Cortez wird unschuldig verurteilt. Und wo Ford amerikanische Mythen fortschreibt, läßt Die Ballade von Gregorio Cortez jene zu Wort kommen, die nie Teil des nationalen Traums der „Frontier“ im Westen waren. Und wenn, dann allenfalls als Stereotyp des ständig unrasierten bandido, der seine Pferde mit Sporen reitet, bis sie zusammenbrechen und aus dem Mund nach faulen Zähnen und Tequila stinkt.

Der historische Gregorio Cortez aber ist nicht vergessen, sondern Nationalheld, Teil der Folklore der Amerikaner mexikanischer Abstammung im Grenzgebiet zwischen Texas und Mexiko. Ein mythisch überhöhter Robin Hood unzähliger Folksongs. Halb Anti-Western, halb Courtroom-Drama, rekonstruiert Die Ballade von Gregorio Cortez das Leben des mexikanischen Landarbeiters bis zu seiner Verurteilung aufgrund eines kulturellen Mißverständnisses: Als Sheriff Morris einem Pferdehandel hinterherforscht, besucht er Cortez' Familie, wissend, daß er zuvor bei einem anderen Ranchero eine Stute eingetauscht hat. Da aber im Spanischen für männliche (caballo) und weibliche (vegua) Pferde zwei verschiedene Worte existieren, verneint Cortez zu recht die Frage, ob er an einem Pferdehandel beteiligt gewesen sei. Darauf kommt es zur Schießerei. Cortez flüchtet und wird zur Legende: Vor den 100 ihn mit Telegraphen und Eisenbahn jagenden Texas-Ranchern konnte er sich elf Tage lang retten und soll dabei über 400 Meilen zu Pferde und 120 Meilen zu Fuß zurückgelegt haben. Noch heute steht er für den Widerstand gegen den weißen Tortilla-Curtain-Rassismus und ein Minoritäten benachteiligendes Justizsystem. Bald sprechen mehr Menschen in den Vereinigten Staaten Spanisch als Englisch, und zweisprachiger Unterricht an den Schulen wird immer noch mißtrauisch beäugt.

Als High School-Lehrer Jaime Escalante in Steh' auf und mach's sieht sich Cortez-Darsteller Edward James Olmos, einer der großartigsten Mimen des Chicano-Kinos, 1988 in einer barrio-Schule im Osten Los Angeles' mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Nicht einmal alle seiner Schüler sprechen überhaupt Englisch, es gibt weder genügend Stühle noch die Computer für Informatik. Also übernimmt er den Mathematik-Unterricht, und wie es sich für jeden ordentlichen Schulfilm gehört, gibt es in seiner Klasse natürlich Musterschüler und Delinquenten. Wie in Dangerous Minds oder Blackboard Jungle gelingt es dem Pauker mit ungewöhnlichen Mitteln, das Herz der Gang-Kids zu erobern. Doch obwohl die Schulbehörde das gute Ergebnis der gesamten Klasse anzweifelt, wird dadurch der Liberalismus des Films nicht ins Schleudern gebracht – daß man nämlich in Reagans Amerika mit Fleiß seines Glückes Schmied sein kann.

So divers wie die Konzeptionen ethnischer Identität, politischer Integrationshoffnungen oder des Multikulturalismus sind auch die Genres, der Einfluß Hollywoods und die Formen filmischen Erzählens im Cine Chicanos, dem Kino mexikanischer Einwanderer, dem sich die 9. Lateinamerika-Filmtage im 3001 widmen. Neben Edward James Olmos, der auch in dem Musical Zoot Suit (1981) über eine Chicano-Gang der Vierziger brilliert, gibt es agitatorische Experimentalfilme wie Ich bin Joaquin von 1969, der am Beginn des Chicano-Kinos steht, oder feministische Melodramen wie Lourdes Portillos Der Teufel schläft nie aus dem Jahr 1994 zu entdecken. Von ihr sind nicht nur zwei weitere Filme zu sehen – Nach dem Erdbeben (1979) über die politischen und sexuellen Erfahrungen einer Latina-Hausangestellten und die Dokumentation La Ofrenda: Tag der Toten (1988) –, die Filmemacherin ist während der Vorführung anwesend und wird bei der montags im Amerika-Haus stattfindenden Chicano-Vorlesungsreihe einen Vortrag über „Chicanos und Film“ (6. Juli, 18 Uhr) halten. Einen Tag vorher steht sie im Medienpädagogischen Zentrum (Susannenstr. 14 d, 15 Uhr) in entspannterer Atmosphäre zu einem Werkstattgespräch zur Verfügung.

Chicano-Filme im 3001

Der Kampf auf den Feldern: Do, 25.6. + Mo, 29.6., jeweils 20 Uhr

Milargo – Der Krieg im Bohnenfeld: Sa, 27.6. + So, 28.6., jeweils 20 Uhr

Die Ballade von Gregorio Cortez: Di, 30.6. + So, 5.7., jeweils 20 Uhr

Das Salz der Erde: Mi, 1.7., 20 Uhr

Steh auf und mach's: Do, 2.7., 22.30 + Mi, 8.7., 20 Uhr

Süße Grenze: Do, 2.7., 20 Uhr + Sa, 4.7., 22.30

Nach dem Erdbeben + La Ofrenda (in Anwesenheit von Lourdes Portillo): Fr, 3.7. + So, 5.7., 22.30

Zoot Suit: Fr. 3.7. + Mi, 8.7., jeweils 22.30 Uhr

Ich bin Joaquin + Der Teufel schläft nie: Sa, 4.7., 20 Uhr

Vocessitas: Mo, 6.7., 20 Uhr + Mi 8.7., 22.30 Uhr

Alambrista!: Di, 7.7., 20 Uhr

Außerdem gibt es eine Reihe begleitender Veranstaltungen. Nähere Informationen unter Tel.: 43 76 79

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