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Die Geschichte ins Museum stecken

Heute wählen die Nordiren ein Regionalparlament. Die Wahlen gelten als wichtiger Test für das Friedensabkommen. Dessen Befürworter haben gute Chancen. Jedoch sind viele Parteien hoffnungslos zerstritten  ■ Aus Belfast Ralf Sotscheck

Eamonn Collins gibt seine Erststimme dem katholischen Sozialdemokraten Frank Feely, weil der früher sein Geschichtslehrer war. Die Zweitstimme bekommt Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, weil er dem selbst mal angehörte. Eamonn Collins war bis 1985 IRA- Nachrichtenoffizier, aufgrund seiner Informationen sind mindestens 15 Menschen ermordet worden. Dann wurde er geschnappt, packte aus und mußte Nordirland verlassen. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in der Grenzstadt Newry.

Der 44jährige Collins ist klein und ein bißchen rundlich. „Die Wahl muß eine neue Toleranz und einen neuen Glauben an die Zukunft widerspiegeln“, sagt er, „wir müssen das Stammesdenken überwinden.“ Heute wählt Nordirland ein Regionalparlament. Das ist im britisch-irischen Abkommen vom Karfreitag festgelegt, das vorigen Monat in beiden Teilen Irlands per Volksentscheid mit deutlicher Mehrheit abgesegnet worden ist.

Gewählt wird nach dem Verhältniswahlrecht, um 108 Abgeordnete in 18 Wahlkreisen zu ermitteln. Die Abgeordneten stellen dann eine zwölfköpfige Regierung auf, in der alle Parteien analog zum Wahlergebnis vertreten sind. Diese Regierung muß innerhalb eines Jahres einen gesamtirischen Ministerrat berufen, der sich mit grenzüberschreitenden Fragen beschäftigen wird.

„Wir müssen endlich unsere Geschichte ins Museum stecken“, sagt Collins, „und aus unserem Ghetto-Denken heraus.“ Falls das Abkommen doch scheitern sollte, werde der Krieg brutaler sein als je zuvor, glaubt Collins: „Die alte IRA hat seit den siebziger Jahren eine disziplinierte und kontrollierte Kampagne geführt. Die neue Generation kennt keine moralischen Schranken, sie würde weltweit britische Institutionen und Geschäftsleute angreifen. Die Kapazität dazu hat sie.“

Und dann zieht er doch wieder die Geschichte heran: „Wir können den Konflikt überwinden, wenn wir uns nach Europa orientieren, so, wie es früher war, als die Missionare von Irland auszogen und das Christentum auf dem ganzen Kontinent verbreiteten.“ Zeugnisse für die alte und die neue Geschichte finden sich in der Umgebung des kleinen Reihenhauses der Collins-Familie: „Alte Steinforts, tausend Jahre alt, und daneben die modernen Forts der britischen Armee.“

Bessbrook zum Beispiel, ein Vorort Newrys: Die Straße in den Ort ist durch eine Schranke versperrt, ein Soldat schiebt Wache. Dahinter, auf einer Wiese am Flüßchen Camlough, ist ein Gelände mit einem hohen Wellblechzaun abgetrennt: ein Hubschrauberlandeplatz. Bessbrook ist der geschäftigste Helikopterflughafen Europas, von hier werden die Armeeforts in der Umgebung versorgt. Die Einfahrt der Straße, die zwischen der Hubschrauberbasis und der Kaserne in Richtung Grenze führt, ist durch Sichtblenden getarnt. Kameras überwachen jeden Schritt. Wer hindurch will, wird durchsucht. Es gibt tatsächlich ein paar Wohnhäuser in dieser hochgerüsteten Straße. Wer hier wohnt, hat sich an den Hubschrauberlärm gewöhnt.

In Bessbrook gibt es kaum Wahlplakate

Die beiden Soldaten im Wachhäuschen hoffen, daß „die Parteien die Wahlen gewinnen, die für den Frieden sind, damit wir nach Hause können“.

Die Soldaten sind seit 1972 in der „Bessbrook Mill“ untergebracht, einer alten Leinenfabrik, die 1845 von John Grubb Richardson errichtet worden war. Der Quäker legte danach den Ort für seine Arbeiter an, heute wohnen hier fast nur Protestanten. Alkohol sei die Hauptursache für Armut und Verbrechen, glaubte Richardson, und so gibt es kein einziges Wirtshaus. Und, so seine Theorie, ohne Pub seien auch Polizei und Pfandhaus überflüssig – Bessbrook ist als „das Dorf ohne die drei P“ bekannt. George Bernard Shaw schrieb über Bessbrook, der Ort sei so langweilig, daß selbst die Schwäne auf dem Weiher an Langeweile eingehen würden.

Bessbrook wählt unionistisch. Die Frage ist, ob die Parteien, die für das Abkommen sind, eine klare Mehrheit bekommen, die notwendig ist, damit das Regionalparlament funktioniert. Es gibt kaum Wahlplakate im Ort, und die wenigen sind so klein, daß man genau hinsehen muß, wenn man sie lesen will. Die gemäßigt unionistische Alliance Party, die sich parteiübergreifend gibt, hat ausgerechnet gelbschwarze Plastikschilder anfertigen lassen, die so aussehen wie die Hinweise für „Kontrollzonen“, in denen kein Auto anhalten darf. Groß angekündigt ist dagegen Richie Kavanagh, ein Rocksänger, der am Abend im Rathaus von Newry ein Konzert gibt. „Die Leute haben die Nase voll“, sagt David Taylor in seinem Eckladen. „Seit Monaten werden sie mit Parolen bombardiert, erst zum Referendum, jetzt zu den Wahlen, aber an der politischen Front hat sich nichts getan. Eine Wahlbeteiligung wie beim Volksentscheid wird es nicht noch einmal geben.“

Die Euphorie, die nach den Plebisziten herrschte, sei vergangen, bestätigt auch Vincent Clarke, der Postbote: „Bei den Unionisten versucht jeder, Punkte gegen den anderen zu machen. Die Ulster Unionist Party ist so zerstritten, daß sie wie zwei verschiedene Parteien auftritt. Und Ian Paisleys und Bob McCartneys Parteien, die gegen das Abkommen sind, schüren den Zwist von außen. Wen soll man da wählen?“ Nach jüngsten Umfragen werden 79 Prozent Parteien wählen, die für das Abkommen sind.

Natürlich sind alle gespannt auf das Wahlergebnis, denn davon hängt das Überleben des britisch- irischen Abkommens ab. David Trimble, Chef der Ulster Unionist Party, hat es versäumt, eine Kampagne mit den katholischen Sozialdemokraten von der SDLP auf die Beine zu stellen. „Das wäre mal etwas Neues gewesen, wenn sie sich über die religiösen Trennlinien hinweg für das Abkommen eingesetzt hätten“, meint Clarke. Aber der Aufruf zu Stimmenübertragungen blieb verhalten. Doch gerade von den Stimmenübertragungen hängt alles ab: Die Wähler numerieren die Kandidaten in der Reihenfolge ihrer Präferenz, und wenn ein Kandidat hoffnungslos abgeschlagen ist, gehen seine Stimmen auf die Nummer zwei über.

Die Gegner des Abkommens haben das besser organisiert. Pfarrer Ian Paisleys Democratic Unionist Party und Bob McCartneys UK Unionists wollen sich gegenseitig Stimmen zuschanzen. McCartneys Wahlkreis ist Holywood, ein ebenfalls protestantischer Ort mit einer britischen Kaserne. Doch das sind die einzigen Gemeinsamkeiten mit Bessbrook.

Mauern und Zäune trennen die Wähler

Im Leinendorf sind seit der Schließung der Fabrik viele arbeitslos, Bessbrook wirkt heruntergekommen. Der Norden der Grafschaft Down, wo Holywood liegt, ist Nordirlands wohlhabendste Gegend, sie gilt als „Wodka-und- Volvo-Gürtel“. Die Stadt strahlt Reichtum aus, an der High Street liegen mehrere Restaurants, zwei Galerien, Blumenläden und ein Maklerbüro. Die Hauspreise beginnen bei 150.000 Mark für ein Reihenhaus. McCartney steckt in der Klemme. Als der britische Premierminister Tony Blair vor ein paar Wochen nach Holywood kam und bejubelt wurde, beschimpfte McCartney seine potentiellen Wähler als „Miet-Mob“. Das hat man nicht vergessen. Laut Umfragen wollen nur 4 Prozent für ihn stimmen.

Holywood liegt an der malerischen Belfaster Bucht, in der Ferne sind die beiden Kräne „David“ und „Goliath“ der Schiffswerft Harland and Wolff zu sehen, wo die „Titanic“ gebaut wurde. Wenn man näher kommt, ist es nicht mehr so schön. Im Schatten der Werft liegt Tiger's Bay, ein protestantisches Viertel. Das ist der Wahlkreis von John White, Kandidat der Ulster Democratic Party, dem politischen Flügel der Ulster Defence Association (UDA).

Früher gehörte White selbst der UDA an. Heute ist es genau 25 Jahre her, daß er den sozialdemokratischen Kommunalpolitiker Paddy Wilson von der SDLP und dessen protestantische Freundin Irene Andrews mit 51 Messerstichen getötet hat. Dafür saß er 22 Jahre im Gefängnis. In Long Kesh machte er einen Abschluß in Soziologie. Seit er draußen ist, habe er „versucht, dafür zu sorgen, daß es keine weiteren Opfer“ gebe. Am vorigen Wochenende kündigte er an, daß die UDA zumindest einen Teil ihrer Waffen abgeben und nicht darauf warten werde, was die IRA macht. Sein Gegenkandidat in Nord-Belfast ist Gerry Kelly von Sinn Féin. 1973 hat er Scotland Yard und den Old Bailey in die Luft gejagt. Auch er kam nach Long Kesh, brach später aus und wurde in den Niederlanden gefaßt. Kelly gehörte dem Verhandlungsteam von Sinn Féin bei den Gesprächen in Schloß Stormont an.

Kellys und Whites Wähler sind durch eine der vielen „Friedenslinien“ getrennt – hohe Zäune oder Mauern, die die protestantischen von den katholischen Ghettos trennen. In Nord-Belfast gibt es besonders viele davon, denn hier sind die Viertel bunt durcheinandergemischt. Seit Ausbruch des Konflikts vor 30 Jahren ist ein Fünftel aller politischen Morde in Nord-Belfast begangen worden.

Für Kelly und Sinn Féin, aber auch für den Waffenstillstand der IRA ist die Wahl ein wichtiger Test: Hat die Partei das Potential, die SDLP zu überflügeln? Parteipräsident Gerry Adams glaubt, daß ein Viertel bis ein Drittel der SDLP-Wähler zu Sinn Féin überlaufen könnte. Den Jugendlichen, die sich in Duncairn Gardens, einer vom Krieg zerstörten Straße auf der Grenze zwischen Whites Tiger Bay und Kellys New Lodge, ein Scharmützel liefern, sind die Wahlen egal. „Die Protestanten sollen nach England abhauen“, sagt einer von der New-Lodge- Seite, „wenn sie die Engländer toll finden.“ In Tiger Bay fragt ein 16jähriger: „Warum schert sich das Papistenpack nicht zu seinen Glaubensbrüdern nach Irland und läßt uns in Frieden leben?“

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