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Siebzehn Minuten Neustadt

Brandenburg, Deutsche Bahn und Schulsenatorin Ingrid Stahmer haben Imageprobleme. Gestern kurierte Stahmer sie bei einer Klassenfahrt ins Umland mit Schokolade  ■ Von Plutonia Plarre

Am Gleis 3 steht eine große, schlanke Frau in einem beigen Hosenanzug und verteilt Autogramme. Ganz sorgfältig in Schönschrift, denn sie wird von einer Schar zehnjähriger Jungen und Mädchen bestürmt. Die vierte Klasse der Steglitzer Rothenburg- Grundschule wird in wenigen Minuten vom Bahnhof Zoo zu einem halbtägigen Klassenausflug nach Neustadt/Dosse Brandenburg aufbrechen. Mit von der Partie: Schulsenatorin Ingrid Stahmer.

Auf dem Bahnsteig wimmelt es von Journalisten und Kamerateams. „Frau Stahmer!“ rufen die Fotografen lockend. „Schreiben und gleichzeitig in die Kamera gucken geht wirklich nicht“, entrüstet sich Ingrid Stahmer spaßhaft und lacht übers ganze Gesicht. So viel Presse hatte die Senatorin mit der sinkenden Popularitätskurve schon lange nicht mehr. Das tut ihr ganz offensichtlich gut, auch wenn der Anlaß ein trauriger ist. Nach den Übergriffen auf Berliner Schüler in Brandenburg will Stahmer zu weiteren Ausflügen ins Umland ermutigen. Die Idee, einmal mitzufahren, kam von der Deutschen Bundesbahn. Der Auftritt der Schulsenatorin ist ein gelungener Werbecoup für eine Aktion, mit der die Bahn seit rund drei Wochen ihr Image aufzupolieren versucht: Berliner Schüler wurden zu kostenlosen Fahrten nach Brandenburg eingeladen, um neue Ausflugsziele zu testen. Ursprünglich sollten nur 20 Klassen teilnehmen. Die Resonanz aus den Schulen war aber so groß, daß mittlerweile über 90 Klassen von dem Angebot Gebrauch gemacht haben – allen Schlagzeilen über Angriffe auf Berliner Gruppen zum Trotz.

Um 9.15 Uhr rollt der Regionalexpress RE4 auf dem Bahnhof ein. Die Schulsenatorin schultert ihre braune Umhängetasche. Kleidung und das Nichtvorhandensein von Gepäck lassen darauf schließen, daß die Fahrt aufs Land kurz werden wird. Sie hat weder Jacke noch Regenschirm dabei, und auch die leichten schwarzen Schuhe laden nicht zu einem Marsch über Holperpflaster oder durch knöcheltiefen Matsch ein. „Frau Stahmer und die Presse bitte in den mittleren Wagen, 1. Klasse, oben einsteigen“, schallt es über den Bahnsteig. Die 21 Schüler der Rothenburg-Schule werden in die 2. Klasse des anschließenden Waggons verwiesen.

Der Klassenlehrerin Margita Schiller ist dies sehr recht. Daß die Schulsenatorin mitfahren wird, hat sie erst Mitte vergangener Woche bei einem Telefonat mit der Deutschen Bahn erfahren. Eigentlich sollte das Gespräch dazu dienen, letzte Modalitäten für die Bahnreise nach Neustadt/Dosse und den Ausflug ins Landesgestüt zu klären. „Dabei bin ich ganz beiläufig gefragt worden, ob ich etwas dagegen habe, wenn Frau Stahmer mitfährt.“ Daß die Senatorin mit ihrer Aktion ein Zeichen gegen die Übergriffe setzen wolle, sei zwar gut, „aber hier und heute bei dieser Klasse nicht angebracht“, findet Margita Schiller. Von den Angriffen seien in der Regel nicht Kinder, sondern Jugendliche betroffen. Die Älteren provozierten viel eher durch eine „große Schnauze“, zumal wenn sie Alkohol getrunken hätten. „Die Kleinen hier“, deutet die Lehrerin auf die Viertkläßler um sich herum, „schare ich wie ein Glucke um mich und beschütze sie.“

Daß „irgendeine Frau, die ganz oben zu reden hat“, mitfahren wird, haben die 10jährige Philine und deren Klassenkameraden vorher von der Lehrerin erfahren. „Wir wußten, daß sie kommt, aber nicht, warum“, sagt Stefanie. Das Thema Fremdenfeindlichkeit im Umland hat Margita Schiller bewußt nicht besprochen, nicht ahnend, daß die Kinder am Bahnhof von den Journalisten mit entsprechenden Fragen bedrängt werden würden. „Wir haben nicht darüber geredet, daß es so gefährlich ist oder so“, ringen die Kinder um Antworten.

Nachdem sie im 2.-Klasse-Waggon Hanuta-Schokoladenwaffeln an die Schüler verteilt hat, widmet sich Ingrid Stahmer den Journalisten. Doch bevor sie über Ursachen und Wirkung von Fremdenfeindlichkeit in Brandenburg räsoniert, ergreift der Regionalbahnchef Hans Leister das Wort. „Für uns ist es ein Geschäft“, freut er sich über das zunehmende Interesse der Berliner an Bahnfahrten ins Umland. „Jetzt fahren wir mit 160 Stundenkilometern Richtung Neustadt“, trumpft er auf. Das Gerede von den Unterschieden zwischen Brandenburg und Berlin mag der gebürtige Münchner nicht hören: „In München sagt man auch nicht, man macht einen Schulausflug nach Bayern.“ Auf die Übergriffe angesprochen, antwortet er: „Ich glaube, daß sehr vieles auch ein bißchen übertrieben wird.“ Das kann Ingrid Stahmer nicht so stehenlassen. „Ich denke schon, daß es bedrohlich ist“, auch wenn bei über 1.000 Klassenfahrten im letzten halben Jahr nur 15mal etwas in dieser Richtung passiert sei.

Ankunft in Neustadt. Ganze 17 Minuten hat Ingrid Stahmer Zeit, um die brandenburgische Kultusministerin Angelika Peter (SPD) und eine Schülerlotsengruppe des Ortes, die als Fremdenführer für die Klasse aus Berlin fungieren soll, zu begrüßen. Dann blickt Hans Leister auf die Uhr: „Wir müssen“, drängt er. Auf dem anderen Bahnsteig wartet schon der RE4 zurück nach Berlin. Bevor Stahmer wieder nach Hause flüchtet, steckt sie den Brandenburger Schülern noch schnell die restlichen Schokoladenwaffeln zu.

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