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Große Freiheit für Quittjes

■ Mit „Statt Reisen“ die Wahrheit über Sackkrallen, Pudel auf Kontorhäusern, den Hamburger Berg und die Fälschertradition erfahren Von Silke Mertins

Gemütlich im Café am Millerntor zu sitzen war ein richtig voyeuristisches Freizeitvergnügen, als es noch kein Fernsehen gab: Bei Matjes und Bierchen „Quittjes gucken“ hieß das hanseatische Amüsement nach Anbruch der Dunkelheit. Man gönnte sich ja sonst nichts. Bis 1860 nämlich galt in Hamburg die „Torsperre“: Alle, die es sich nicht leisten konnten, richtige HamburgerInnen zu sein, sondern in St. Pauli oder gar Altona lebten, konnten sich am Abend nur gegen Eintrittsgeld innerhalb der hansestädtischen Stadtmauern aufhalten. Den Auswärtigen beim Zahlen zu beobachten – das gefiel dem Hamburger. Dafür gab's auch einen Beleg: die Quittung. Sein Besitzer: der Quittje.

Mit schrägem Blick auf die Stadt, intim mit Sackkrallen und Fleetkiekern, mit der Reeperbahn und anderen Seilschaften sind die „Statt-Reisen“-FührerInnen. Statt in die Ferne zu schweifen, die Autobahnen zu verstopfen, die Mallorquiner zu belästigen oder auf einem Adventure Trip im Himalaya rumzukrabbeln kann man sich zur Abwechslung auf Entdeckungsreise ums eigene Karree begeben.

Jörn Tietgen zieht zum Beispiel jeden Samstag aus, HamburgerInnen und Quittjes die Zwischentöne der Stadtgeschichte zu lehren. Aber nicht ohne seine Wundertüte. An jeder Station seiner Tour „Von der Hammaburg zur Hafenstadt“ zieht er aus den Tiefen seiner Utensilien-Tasche eine neue Überraschung hervor: Historische Karten, Photos aus den glücklichen Zeiten, als vor dem Rathaus noch die Straßenbahn hielt, oder kleine Geschichtchen über Omas, die noch direkt ins Fleet pinkeln konnten. Hin und wieder zeigt Jörns Finger nach oben, zum Beispiel auf den Pudel, der auf dem Dach eines der ältesten Kontorhäuser Hamburgs steht; der Reeder Laeisz verzierte Haus und Schiffe mit dem, was seine geliebte Gattin ihrerseits über alles liebte: Pudel.

Vor dem Rathaus wird Pikant-Politisches serviert: Um ihre Handelsrechte zu sichern, haben sich die hiesigen Hanseaten nämlich schon früh im Urkundenmanipulieren geübt. „Seit Jahrhunderten alles gefälscht“, freut sich Jörn.

In der Speicherstadt wird der Statt-Reiseleiter dann richtig sinnlich, denn jetzt muß geschnüffelt werden. Viele kleine Gläschen zieht er aus einem original Speicher-Jutesäckchen. Denn was die Kaufleute prüfend mit dem „Probenzieher“ aus dem Sack ziehen – nur von unten! –, riecht ziemlich unverwechselbar: Kakaobohnen, Sternanis, Zimtstangen, Kaffeebohnen, Pfefferkörner oder Kardamom. Auch mit Sackkrallen, die zum Herumschieben der schweren Lasten dienen, kann Statt-Reisen-Jörn aufwarten.

Neben vielen Entdeckungsreisen, die Statt Reisen zu bestimmten Terminen anbietet – von „Jüdisches Leben im Grindelviertel“ bis „Isebeck, ein Stadtgewässer im Wandel“ – gehört sonntags der Kiez zum festen Programm. Die Tour „St. Pauli – von der Vorstadt zur heißbegehrten Meile“ will Geschichten jenseits der schlüpfrigen Touri-Stadtrundfahrten („und hier sehen Sie, wo die Grundversorgung bestimmter Bedürfnisse stattfindet“) erzählen.

Die Große Freiheit hat zum Beispiel eigentlich nichts mit den rotlichtigen Etablissements zu tun, die heute dort ansässig sind, denn eigentlich gehörte sie einmal zu Altona, wo es im Gegensatz zu Hamburg Religions- und Zunftfreiheit gab. Die Straße Hamburger Berg – einstmals der Name eines Wohnquartiers – hieß übrigens eigentlich mal Heinestraße. Doch den Nazis paßte Salomon Heine, Heinrich Heines Onkel und der Gründer des Israelitischen Krankenhauses, nicht ins rassistische Konzept. Zurückbenannt hat die Stadt den Hamburger Berg bis heute nicht.

So gar nicht ins Pflichtprogramm der Sehenswürdigkeiten paßt der Stadtteil St. Georg. Doch hier sorgt der Lokalmatador Michael Joho (Einwohnerverein St. Georg) in Zusammenarbeit mit Statt Reisen für einen tiefen Blick hinter die Kulissen und läßt zwischen Drogenelend und Porno-Läden auch Platz für „eines der spannendsten und vielfältigsten Stadtteile Hamburgs“.

„St. Georg – nur ein Bahnhofsviertel?“ gibt's morgen, Sonntag, 9. Juli, 11 Uhr, Treffpunkt: Spadenteich vor Max & Consorten.

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