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Alltagstristesse auf vier Quadratmetern

Ein Jahr nach der Jahrhundertflut in Polen leben zahlreiche Opfer nach wie vor in Notunterkünften. Etliche Straßen und Deiche sind noch nicht repariert. Gestern wurde nach heftigem Regen in 25 Gemeinden erneut Alarm ausgelöst  ■ Von Gabriele Lesser

Warschau (taz) – Das alte Jugendstilhaus in der Breslauer Worcellstraße ächzt, knirscht und stöhnt ein letztes Mal. Dann bricht es zusammen. Die Bewohner des Hauses stehen auf der anderen Straßenseite. Manche weinen. Ein fünfjähriger Junge streckt den Finger aus, deutet auf die aufgerissenen Wohnungsreste im dritten Stock und schreit aufgeregt: „Da haben wir gewohnt.“ Seine Mutter steht wie versteinert.

Daß das Hochwasser vom Juli letzten Jahres auch noch Monate nach der Katastrophe Schaden anrichtet, damit hatte sie nicht gerechnet. Im dritten Stock fühlte sie sich sicher. Doch nach den trockenen Sommermonaten hatte das Haus die Wassermassen wie ein Schwamm aufgesogen, über den Herbst trocknete es nicht, im Winter ließ der Frost die ersten Wände reißen, und im Frühjahr dieses Jahres wuchs ein stinkender, blaugrüner Schimmelteppich vom Keller bis fast unter das Dach. Die Bewohner, die ihre Wohnungen bereits renoviert hatten, mußten evakuiert werden. Einsturzgefahr.

Ein Jahr nach der Hochwasserkatastrophe ist noch immer kein Ende der Probleme in Sicht. Im Gegenteil: Gestern wurde nach heftigem Regen in 25 Gemeinden erneut Hochwasseralarm ausgelöst. Im Südosten trat der Fluß Wislok über die Ufer und hat nach Angaben eines Sprechers des Hochwasserkomitees den kritischen Wasserstand um bis zu 45 Zentimeter überschritten. Experten kündigten für die kommenden Tage noch stärkere Regenfälle an.

Doch nicht nur die Angst vor neuen Wassermassen treibt die Menschen um. Ein Jahr nach der Jahrhundertflut im Dreiländereck Polen/Tschechien/Deutschland leben die meisten Opfer der Hochwasserkatastrophe in Polen nach wie vor in Notunterkünften. Die Stimmung in den „Wohncontainern“ und ehemaligen „Arbeiterhotels“ ist schlecht.

Allein in Breslau kämpfen 250 Familien gegen die Alltagstristesse in ihren vier Quadratmeter großen Zimmern an. Weitere 200 Familien stehen auf der Warteliste. „Wir müssen so schnell wie möglich 30 Häuser evakuieren, 18 stehen kurz vor dem Einsturz, vielleicht läßt sich ein Teil der übrigen Häuser retten“, erklärt Henryk Feliks, der Direktor des Amtes für kommunale Wirtschaft in Breslau- Krietern (Wroclaw-Krzyki). Zwar stehen aus dem Hilfsprogramm „1.000 Wohnungen für die Flutopfer“ noch viele der schnell errichteten Häuschen leer, doch kaum jemand will einziehen: Die Häuser sind feucht, nur intensives Heizen würde sie bewohnbar machen.

Doch die hohen Stromkosten kann sich kaum eine der Breslauer Flutopferfamilien leisten. Viele haben ihr gesamtes Hab und Gut in der vier Meter hohen Flutwelle verloren und müssen sich erst wieder eine Existenz schaffen. Zwar haben die meisten von der Regierung eine einmalige Finanzhilfe in Höhe von 3.000 Zloty erhalten (rund 1.600 Mark), doch dafür kann man auch in Polen nur einen Herd, einen Kühlschrank und gerade noch ein Bett kaufen.

Durch das Hochwasser im Juli letzten Jahres kamen allein in Polen 55 Menschen ums Leben. Der über Wochen andauernde heftige Regen hatte Oder, Neiße, Warthe und Bober über die Ufer treten lassen. Deiche und Wälle konnten die Wassermassen nicht halten: Über 2.600 Ortschaften versanken in den Fluten, darunter Breslau, die viertgrößte Stadt Polens. Rund um die Dörfer breitete sich eine gigantische Pfütze aus: „Land unter!“ hieß es für 660.000 Hektar Getreide- und Gemüseäcker, für Weideflächen und Obstplantagen. Den Gesamtschaden beziffern die Behörden auf mehr als zwölf Milliarden Zloty (über 6 Millarden Mark). Der Hauptanteil entfällt allerdings auf die öffentliche Infrastruktur wie Straßen, Brücken, Schulen und Krankenhäuser.

Mit Hilfe ausländischer Unterstützung hat Polen bis Ende April dieses Jahres 1.700 Kilometer zerstörte Überland- und Stadtstraßen instand gesetzt, 668 Brücken saniert, fast alle Strom- und Wasserleitungen repariert. Allerdings stehen diesen Daten katastrophale Fehlzahlen gegenüber. Über 6.300 Kilometer Straße und 2.800 Brücken warten noch auf Sanierung. Erschreckend ist die Bilanz für die zerstörten Deiche und Wälle: Entlang der Oder und ihren Zuflüssen sind von 753 Kilometern gerade 51,5 Kilometer fertiggebaut, entlang der Weichsel und Zuflüssen sind es nur 19 von auszubessernden 505,5 Deichkilometern.

Dies liegt nach Aussage von Stadtvätern und Deichbauern vor allem an der zu geringen Zahl professioneller Deichbauer. An manchen Stellen ist Breslau heute ungeschützter denn je. Rund um die Villenviertel Zalesie und Zacisze konnte mit dem Deichbau noch gar nicht begonnen werden, da sich Stadtverwaltung und Kleingärtner über die Entschädigung für den Landverlust noch nicht einigen konnten. „Den Bewohnern bleibt nur eines“, kommentiert das Nachrichtenmagazin Polityka: „Beten, daß es in diesem Jahr zu keinem weiteren Hochwasser kommt.“

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