Pick Pockets: Endorphine und Distanzschüsse
■ Was ist Sport? Und was ist so schön daran? Vermutungen von Heidegger bis Herberger
Winston Churchill gab auf die Frage nach dem Geheimnis seiner Fitness die legendäre Antwort: „No sports.“ Obwohl England eine Sportnation ersten Ranges ist, gibt es dort in schönster Snob-Tradition immer noch so geistreiche Sportverächter wie den Autor und Schauspieler Stephen Fry. In seiner Glossen-Sammlung mit dem literarisch-sportlich doppelsinnigen Titel „Paperweight“ schreibt er: „Eine Aschenbahn herum zu rennen ist Sport, schwere Gewichte zu stemmen, Flüsse entlangzurudern, mit Speeren, Hämmern und Kanonenkugeln zu werfen, Menschen mit der Faust ins Gesicht zu schlagen und durch ein Stadion zu radeln — all das ist Sport.“
Besser als allen anderen gelang es dem Boxer Muhammad Ali, Menschen die Faust ins Gesicht zu schlagen. Über den Stil dieses Boxgenies hat sich Jan Philipp Reemtsma in seinem Essay „Mehr als ein Champion“ Gedanken gemacht. Er interpretiert Ali als „kollektives Erlebnis, das — natürlich in Verbindung mit dem Vietnamkrieg, dem sich Ali verweigerte — die USA vor Bewältigungsprobleme stellte“. Zudem habe Ali einen neuen, sozialpsychologischen Typus verkörpert, in dem sich Variabilität und Größenwahn verbinden. Den Gegnern Alis ging es jedenfalls am Ende fast so wie dem kanadischen Boxer Kock in einem der unverwüstlichen „Sport-Gedichte“ von Joachim Ringelnatz: „Und es endet zuletzt / Reizvoll, wie es beginnt: / Kock wird tödlich verletzt. / Käsow aber gewinnt. / Leiche von Kock wird bedeckt. / Saal wird langsam geräumt. / Käsow bespült sich mit Sekt. / Leiche aus Canada träumt.“
Ins Träumen geraten auch Langstreckenläufer, wenn ihnen die Endorphine zu Kopf steigen: „Ich laufe der Sonne entgegen. (...) Gleich werde ich umkehren, den Wind im Rücken haben. Vielleicht fliege ich dann. Ich fühle mich schwerelos.“ Der Journalist und Amateur-Marathonläufer Ulrich Pramann berichtet in seinem Buch mit dem schlichten Titel „Laufen“ von den Glücksgefühlen, die sich einstellen, wenn man den sogenannten inneren Schweinehund überwindet —, und vermutlich ist diese Überwindung das Geheimnis aller sportlichen Erfolge.
„Die Skiläufer kämpfen gegen die Uhr. Die Schwimmer kämpfen nebeneinander. Die Stabhochspringer kämpfen nacheinander. Beim Fußball kämpft man in Rudeln. Die Boxer kämpfen Fuß bei Fuß. Nur Tennisspieler duellieren sich auf Distanz.“ Das schrieb Erich Kästner in seinem Feuilleton „Lob des Tennisspiels“, und vielleicht hängt die Popularität des Tennis weniger mit Boris Becker und Steffi Graf zusammen als damit, daß dieser Sport ohne Körperkontakt funktioniert. Das vermutet jedenfalls Uwe Wittstock im Nachwort zu seiner Anthologie „Tennis oder Die Ordnung des Lebens“.
Zur Fußballweltmeisterschaft häufen sich im Taschenbuchmarkt auch die Fußballbücher, zum Beispiel Dirk Schümers „Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs“, eine Mischung aus Philosophie und Phänomenologie, locker und klug geschrieben und allein schon des folgenden Zitats wegen sein Geld wert: „Bei allem wissenschaftlichen Ansehen Heideggers und seiner kargen Kunst des Denkens — der schlüssigere Kopf bleibt Sepp Herberger. Heideggers verwickeltes Diktum ,Das Ereignis ereignet. Damit sagen wir vom Selben her auf das Selbe zu das Selbe‘ kann mit der in sich geschlossenen Evidenz und Gedankentiefe von Herbergers ,Der Ball ist rund‘ nicht mithalten.“
„Alles, was ich über Moral weiß, habe ich vom Fußball“ — sagte nun aber wiederum nicht Sepp Herberger, mit dessen politischer Moral es übrigens nicht allzu weit her war, sondern Albert Camus. Den modernen Profifußball hat er natürlich nicht gemeint; aus den 11 Freunden, die man einst sein mußte, sind längst 11 Geschäftspartner geworden, deren Moral weitgehend mit ihrem Gehalt identisch ist. „Der Aufsteiger“, Sven Böttchers Roman über die Fußball-Bundesliga, läßt zwar kein Klischee aus und scheut sich nicht vor Stereotypen à la „ran“, hat aber auch mit sentimentaler Fußballnostalgie nichts am Hut. Wer gerne mal im Kicker blättert, wird vielleicht auch diesem sauber recherchierten B-Roman etwas abgewinnen.
Daß man eine Fußball-WM als eine Art massenhysterische Einübung in basisdemokratische Strukturen verstehen kann, legen Johannes Dräxler und Harald Braun nahe: „Selbst Menschen, die einen ,Strafraum‘ für eine Folterkammer der benachbarten Justizvollzugsanstalt halten und für die ,Distanzschüsse‘ Dinge sind, die die Genfer Konvention ausdrücklich verbietet, gerieren sich plötzlich als Fans.“ Das Buch mit dem lapidaren Titel „Fußball“ ist übrigens, wie auch Ulrich Pramanns „Laufen“, in der schönen dtv-Reihe „Kleine Philosophie der Passionen“ erschienen. Dräxler und Braun zitieren natürlich auch die wunderbare Definition des Fußballs, die der englische Nationalspieler Lineker einmal gab: „Fußball ist ein Spiel, bei dem 22 Mann hinter einem Ball herlaufen, und am Ende gewinnt immer Deutschland.“ Das hätten weder Oscar Wilde noch Stephen Fry oder Sepp Herberger hübscher formulieren können, muß aber nach dieser WM doch noch einmal überdacht werden. Klaus Modick
Jan Philipp Reemtsma: „Mehr als ein Champion“. rororo
Stephen Fry: „Paperweight“, Heyne TB
Joachim Ringelnatz: „Gedichte“. RUB
Ulrich Pramann: „Laufen“. dtv
Johannes Dräxler, Harald Braun: „Fußball“. dtv
Sven Böttcher: „Der Aufsteiger“. Wunderlich TB
Dirk Schümer: „Gott ist rund“. Suhrkamp tb
Uwe Wittstock (Hg.): „Tennis oder Die Ordnung des Lebens“. insel tb
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