: Ob „Chance 2000“, „Die Kreativen“ oder „Die Guten e.V.“ – das Volk fordert seinen Platz auf der politischen Bühne. Insgesamt 66 Vereinigungen haben dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung an der Bundestagswahl angezeigt. Heute entscheidet der Wahlausschuß über ihre Zulassung. Die Anzahl der Initiativen ist so erstaunlich wie ihre Vielfalt und dezidierte Zielgruppenorientierung. Von Petra Kohse
Volkstheater statt Volkspartei
Gern bezeichnen sich die politischen Großorganisationen dieser Republik auch als „Volksparteien“. Mit den Bedürfnissen des Volkes haben sie trotzdem nichts zu tun. Statt Kindertagesstätten brauchen CDU- und SPD-Funktionäre Anlageberater, mit „Sozialleistung“ meinen sie Diätenerhöhung, und um trotzdem Vertrauen zu erwecken, posieren sie im Urlaub vor Streicheltieren.
Die politische Kaste befindet sich in einem Zustand grotesken Drohnentums, den das Volk hinnimmt wie das Wetter. Selbst die Bewegtesten haben am Beispiel ihrer Zielgruppenpartei Bündnis 90/Die Grünen gelernt zu akzeptieren, daß der größte Teil politischer Energie mit naturgesetzmäßiger Präzision in den Erhalt politischer Macht fließt. Keine Fehlentscheidung oder Unterlassung konnte eine der etablierten Parteien in den letzten Jahren davor schützen, gewählt zu werden. Der Wähler hat sich als Abonnent bewährt.
Weil das aber so ist, muß es nicht so bleiben. Es könnte vielmehr sein, daß das Licht des nächsten Jahrtausends die volksparteiliche Rundum-sorglos-Dramaturgie plötzlich als Operette enttarnt und das Volk über die Rampe klettert, um den Realismusgehalt unter eigener Regie zu erhöhen. Ab durch die Mitte – auch in der Natur sind Drohnen nicht pensionsberechtigt.
Erste Veränderungen auf der sogenannten politischen Bühne rollen tatsächlich bereits heran, und Gerhard Schröder spielt dabei bestimmt keine Rolle. Es tut sich wirklich was, und zwar in Berlin, Hamburg und München wie in Dormagen, Norderstedt oder 35287 Amöneburg. Die Rede ist von Vereinigungen, die „dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung an der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag angezeigt haben“, und das sind immerhin sechsundsechzig und damit etwa dreißig Prozent mehr als vor vier Jahren.
Ob „Kinder-Kinder“ als Partei für eine kinderfreundliche Umwelt, Partei der Arbeitslosen oder Nichtwähler, als spirituell orientierte politische Vereinigung „Bewußtsein“, ökologisches, feministisches, tierschützerisches oder bayrisch-fränkisch-schwäbisches Bündnis – die Anzahl der Initiativen ist so erstaunlich wie ihre dezidierte Zielgruppenorientierung. Am Ende der Ideologien setzt offenbar eine Globalitätsflucht ein, die das Dorf in der Region behalten will und die Technowelt mit dem Faktor Mensch besteuert.
Die Familienpartei „Familie“ aus St. Ingbert, die Partei der Alternativen Bürgerbewegung 2000 aus Stralsund, die Arme Leute Partei aus Demmin, die Wählergemeinschaft „Die Guten e.V.“ oder die 1. evolutionistische Partei der Welt „Die Kreativen“. Sie alle haben sich vielleicht bei Kerzenschein überm parfümierten Tee gegründet oder sind eine fixe Idee tagträumerischer Wollsockenträger. Aber da sie im Parteienregister eingetragen sind und auf der Liste des Bundeswahlausschusses stehen, der heute in Bonn über ihre Zulassung zur Bundestagswahl entscheidet, müssen sie bereits einen gewissen Teil an Realitätsbeständigkeit bewiesen haben.
Es gibt eine Satzung, einen Vorstand und vielleicht mehrere Landesverbände. Es wurden Parteitage abgehalten, Unterschriften gesammelt und Direktkandidaten ernannt. Parteiaktivisten haben auf Dorffesten gestanden, sind durch Altenheime getingelt und haben sich nach Art der Stand-up comedians stets und überall politisch inszeniert. Und offenbar genügend Publikum zur Unterschrift gebracht. Um in Mecklenburg- Vorpommern auf dem Wahlzettel zu stehen, braucht man 1.380 Unterstützer, in Berlin 2.000.
„Freitag, 17.7.98: Oberstaatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt hat einen Termin beim Bundeswahlleiter in Bonn. Chance 2000 sammelt Unterschriften in Dresden, Grönemeyer-Konzert. Samstag, 18.7.98: Chance 2000 mit Bus in Rostock. Ab 15 Uhr in Leipzig Völkerschlachtdenkmal – Badewannenwettrennen, Chance-2000-Stand. Teilnahme am Rennen mit eigenem Chance-2000-Boot ,Wir winken nicht‘.“
Der Verein Chance 2000 alias „Partei der letzten Chance“ ist eine der sechsundsechzig Vereinigungen, die heute geprüft und gewogen werden. Und ein Blick auf die parteieigene Homepage zeigt: Sie schonen sich nicht und haben noch Spaß dabei. Heute bei Biolek in der Talkshow, morgen in der Freiburger Einkaufszone trommelt der Filmemacher und Theaterregisseur Christoph Schlingensief für das richtige Leben im falschen, unterstützt von dem Dramaturgen Carl Hegemann, dem Schauspieler Martin Wuttke oder einem anderen aus seiner Kunst-Familie voller Profis, Laien und Behinderter.
„Wähle dich selbst“ ist der Slogan der an einem Freitag, dem 13., vor vier Monaten in Berlin gegründeten Volksbühnen-Partei. Als zeitlich begrenzte Performance geplant, steuert Chance 2000 inzwischen jedoch – vom breiten öffentlichen Interesse getragen und im wesentlichen von dem Modemacher Wolfgang Joop finanziert – rasant auf die Bundestagswahl zu. Fast 20.000 Mitglieder gibt es, Landesverbände in Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen sind sicher, vielleicht schaffen sie bis zum Fristende am 23. Juli noch Bayern und Meck-Pomm. Ausgezogen, um Parteienrealität spielend anzuprangern, kandidiert der 37jährige Künstler nun selbst für Berlin-Prenzlauer Berg.
Die Botschaft ist so simpel wie einleuchtend: Scheitern als Chance, zu zeigen daß man existiert. Ein Aufbegehren gegen die Vollfunktionalisierung des öffentlichen Lebens wie gegen die Ignoranz der nicht voll Funktionsfähigen. Als Partei für Arbeitslose, Behinderte und andere Minderheiten, die zusammen eine Mehrheit bilden würden, ist Chance 2000 einerseits vollwertiges Mitglied der Anwärterliste des Bundeswahlausschusses, als Individualisierungsmaschine aber auch gleichzeitig so etwas wie ein Agent der Vielparteilichkeit als solcher. Jede Stimme, die am Wahltag einer der „sonstigen“ Parteien zufällt, wird letztlich eine für Chance 2000 sein. Ist dies noch Theater, so hat es Methode, und dafür, daß sich Christoph Schlingensief bei alledem nicht von seiner Basis entfremdet, bürgt ein Schreiben der Volksbühne, in dem es heißt, Chance 2000 werde am 27. September in jedem Fall wieder an das Theater zurückkehren: „Dort endet ein soziologisch/politisch/theatralisches Experiment (oder auch nicht).“ Volkstheater statt Volkspartei, Teilhabe jetzt, stürmt die Kulissen, bezahlt wird nicht! Die Anarchistische Pogo Partei Deutschlands (APPD) sieht das sicher ähnlich.
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