Nun haben sie endlich alle ihre Ruh': die Zarenfamilie, die Kirche, Jelzin und auch das russische Volk. Auf den Tag genau 80 Jahre nach der Ermordung Nikolaus II. und seiner Familie durch die Bolschewiken wurden nun in St. Petersburg deren Überreste feierlich beigesetzt. Die Gebeine wurden vor Jahren aus einem Sumpf in Jekaterinburg zutage gefördert. Ob die Knochen echt waren, kümmerte gestern die wenigsten Schaulustigen. Aus St. Petersburg Barbara Kerneck

Kollektive Absolution

Das Ritual beschränkte sich auf das Nötigste. Predigten wurden nicht gehalten, aber es sang einer der berühmtesten russischen Kirchenchöre, und die Liturgie vollzog der in der Stadt überaus beliebte Gemeindevater Boris Glebow: Gestern wurde in der Familiengrabstätte der Romanows auf der St. Petersburger Peter-und- Pauls-Festung Nikolaus II. begraben, Rußlands letzter Zar, zusammen mit seiner Frau Alexandra, dreien ihrer Töchter, drei Bediensteten und dem Leibarzt Botkin. Nicht mitbestattet wurden Zarentochter Marija und der Zarewitsch Alexis; ihre sterblichen Überreste konnte man bis heute nicht finden.

In der Liturgie gab es dabei eine kleine Merkwürdigkeit: Vater Glebow bezeichnete die auf den Tag genau vor 80 Jahren von den Bolschewiki ermordeten Verstorbenen zwar indirekt als Märtyrer, „die um ihres Glaubens willen gelitten haben“. Aber er benannte sie nicht weiter. Dem Herrn empfahl er „Deine Diener, deren Namen Du selber kennst“.

Versammelt hatten sich in dem Gotteshaus über 60 Mitglieder der Familie Romanow aus allen Ecken der Welt: Gouverneure, Botschafter, Duma-Deputierte und Vertreter der Kulturelite wie der Senior der russischen Akademie der Wissenschaften, Dmitri Lichatschow, und der weltberühmte Cellist Mstislaw Rostropowitsch. Last but not least stand da ein mit Rührungsschluchzern kämpfender Präsident Boris Jelzin.

Den Entschluß zu kommen, hatte er mit der ihm eigenen Spontanität erst am Vortag gefaßt, wenn auch zum zweiten Male. Es heißt, der greise Exdissident Lichatschow habe ihn zu diesem Schritt überredet. Wer fehlte, waren der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Alexij II., und Großfürstin Leonida Georgiewna Romanowna mit ihrem Enkel Georgi von Hohenzollern, den der Weltadel als künftiges Haupt des Hauses Romanow anerkennt.

Jelzin hatte sich die Bestattungszeremonie in Petersburg ursprünglich als Schlußstrich unter den jahrzehntewährenden Krieg einer Nation mit sich selbst und als historische Krönung seiner Amtsperiode vorgestellt. Doch der Patriarch tat schon lange so, als hielte er die Echtheit der Gebeine nicht für ausreichend bewiesen. Zu Wochenbeginn zog er sie in einer aggressiven Erklärung in Zweifel.

Wie Dominosteine fielen danach zahlreiche Würdenträger der Russischen Föderation um und sagten nacheinander ihre Teilnahme ab. Als bekannt wurde, daß die Bestattungskommission den ursprünglich geplanten Aufwand stark heruntergeschraubt hatte, begann die Angelegenheit nach Skandal zu riechen. Auf die Seite des Patriarchen schlugen sich Großfürstin Leonida Georgiewna und ihr Enkel Georgi von Hohenzollern. Sie und ihre Nächsten hielten gestern mit dem Patriarchen Alexij II. in der Nähe von Moskau einen Gedenkgottesdienst für die vor 80 Jahren ermordete Zarenfamilie ab. Wie sich herausgestellt hat, waren sie am Katzentisch gelandet.

Für die vorläufige Niederlage des Patriarchen im großen Match der Eitelkeiten sorgte zuerst einmal Petrus. Im Sonnenschein vermag diese Stadt jedem hier stattfindenden Ereignis Feierlichkeit zu verleihen – ganz ohne Pomp. Vor den klassizistischen Fassaden hieß diesmal die Devise: Weniger ist mehr. Daß nicht die ganze Stadt, sondern nur die Route des Trauerzuges auf Halbmast geflaggt war, oder daß nur tausend Soldaten den Trauerzug säumten statt der ursprünglich geplanten Mammutzahl – die PetersburgerInnen, die am Donnerstag an der Palastpromenade vor dem Winterpalast standen, waren's zufrieden.

Für die überwiegende Mehrheit von ihnen ging es nicht um hohe ideologische Ziele, sondern darum, „unglückliche Menschen“ anständig zu begraben. „Natürlich vernachlässigen wir durch das Postenstehen ein paar wichtige andere Pflichten“, erklärte ein Milizionär. „Aber was soll man denn machen: Die Gebeine dieser Menschen können doch nicht ewig irgendwo herumkullern.“

„Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und weine schon drei Tage lang, weil ich mir all die Fernsehsendungen über die Zarenfamilie ansehe“, klagte eine fragile Frau um die 40. Später outete sie sich als arbeitslose Schauspielerin und sagte: „Ich bin gekommen, um meiner Trauer Ausdruck zu verleihen und zu zeigen, wie sehr ich mich für unser Volk schäme.“

Der neben ihr stehende 62jährige Boris, Arzt und Gehirnforscher, hatte extra seine siebenjährige Enkelin Manja mitgebracht, damit sie das historische Ereignis nicht verpaßt. Als Wissenschaftler erklärte er: „Ich mache mir große Sorgen über das Verhältnis unserer Kirche zum Volk.“ Was den Präsidenten betrifft, so führte Boris dessen neuesten Entschluß nicht auf Dmitri Lichatschows Einfluß zurück, sondern auf „Jelzins populistische Natur“ und dessen Fähigkeit, „auf die Stimmung des Volkes wie ein Barometer zu reagieren“.

Tatsächlich schraubte der Präsident in seiner gestrigen Presseerklärung seine ideologischen Ansprüche zurück. Er bezeichnete darin die Bestattung nicht mehr als „nationale Versöhnung“, sondern als „Akt der menschlichen Gerechtigkeit“ und „Versuch der heutigen Generation von Russen, ihre Sünden zu büßen“.

Wenig bekümmert von Echtheits- und Protokollstreitigkeiten, dafür Punktsieger in der Publicity waren auch die etwa 60 Mitglieder der Familie Romanow, die keinerlei dynastische Ansprüche stellen und sich vom Petersburg-Besuch durch protokollarische Bedenken nicht abhalten ließen. Wie Quecksilber ergossen sie sich aufs Deck des Panzerkreuzers Aurora, der seinerzeit den Signalschuß zum Sturm auf ihr Stammdomizil gab. Die Romanows von heute wohnen auf allen Kontinenten und tragen oft andere Familiennamen, unter ihnen sind ein Kopenhagener Bankier, der Bürgermeister einer amerikanischen Großstadt und ein ehemaliger französischer Filmproduzent. Viele von ihnen haben sich gegenseitig und die Stadt Petersburg gestern und vorgestern zum ersten Mal gesehen.

Auch der Vatikan zeigte keine Zurückhaltung, in der Liturgie wurde ein Stück Ökumene praktiziert: Ein katholischer Priester las die Messe für Alois Truppa, einen Balten-Deutschen römisch-katholischer Konfession, der die Zarenfamilie als Kammerdiener freiwillig in die Verbannung begleitet hatte und mit ihr umkam.

Für den fundamentalistischen Flügel der russisch-orthodoxen Kirche bedeutete auch dies eine Ohrfeige. Deren Anhänger glauben noch heute, die Zarenfamilie sei einer Verschwörung von Juden und Freimaurern zum Opfer gefallen. Am Vorabend der Bestattung überhäuften sie Vater Glebow mit Drohungen. Die Rentnerin Natalja an der Ecke vor dem Winterpalast war froh, daß der Geistliche dennoch seine Aufgabe erfüllte: „Der Liturgie macht es nichts aus, ob sie ein Patriarch oder ein Pope vollzieht, und noch weniger diesen geschundenen Gebeinen. Als einzige von uns allen haben sie längst vergessen, wer sie einmal waren.“

Siehe auch taz mag Seite IV