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■ Kopftuchdebatte: Ob das Tragen des Tuches religiöse Pflicht ist oder politische Demonstration, können nur die Frauen selbst entscheidenDie falschen Propheten

War die ganze Aufregung überhaupt nötig? Oder handelt es sich bei der jüngsten Kopftuchdebatte um einen jener Debattenfakes, mit denen die Ereignisarmut des Sommers überbrückt werden soll? Fehlentscheidungen korrigiert man in einem Rechtsstaat vor Gericht und nicht in der Presse. Dennoch ist es kein Zufall, daß die baden-württembergische Entscheidung, einer jungen Frau das Lehramt zu verweigern, weil sie während des Unterrichts auf ihr Kopftuch nicht verzichten will, in Deutschland zu einer kontroversen Diskussion geführt hat.

Längst ist das Kopftuch nicht nur ein Symbol der in der Öffentlichkeit vorgelebten islamischen Lebensweise, es ist auch der Reizstoff all derjenigen, die sich von einem politischen Islam bedroht fühlen. Es gibt kaum eine Religion, die nicht auch politisch ist. Also trifft die Distanz, die gegenüber dem politischen Islam an den Tag gelegt wird, irgendwie auch alle Muslime. Die Front gegen die Islamisten wird immer mehr zum Instrument der Islamisten, weil sie Muslime, und zwar muslimische Individuen, zu Opfern macht.

Berufsverbot für Trägerinnen von Kopftüchern, ein besseres Kampfmotiv kann es für Islamisten nicht geben. In der Türkei läuft dieser Kampf schon seit einer Weile. Er hält dort den Demokratisierungsprozeß auf. Inzwischen gibt es in türkischen Universitäten absurde Bekleidungsvorschriften. Frauen mit Kopftüchern dürfen nicht zu den Vorlesungen, sie werden zu den Prüfungen nicht zugelassen. Es ist, als wollte man ihnen sagen: Bildung, das habt ihr sowieso nicht verdient. Über das laizistische Gesellschaftssystem wacht die türkische Armee streng. Dabei argumentieren die türkischen Generäle genauso wie die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan. Das Kopftuch wird als politisches Agitationsmittel und nicht als religiöse Pflichterfüllung gedeutet. Länder, in denen Generäle und Kultusminister religiöse Pflichten erklären und diese Deutungen zur Grundlage von Amtsentscheidungen machen, sind mit Sicherheit nicht säkular. Ebenso muß bezweifelt werden, ob sie überhaupt demokratisch und pluralistisch sind.

In letzter Zeit verstärkt sich bei mir der Eindruck, daß die deutsche Demokratie angeschlagen ist. Da werden in Bayern für straffällig gewordene ausländische Jugendliche und ihre Eltern die einfachsten Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit aufgehoben. Sie sollen gemeinsam ausgewiesen werden. Jetzt wird einer deutschen Staatsbürgerin wegen ihrer religiösen Überzeugung die Berufsausübung von Staats wegen verweigert. Das sind schlechte Vorboten für die Berliner Republik.

In einem Staat, in dem für Fremde und für das als fremd Empfundene nicht dasselbe Recht gilt wie für Einheimische, kann sich kein pluralistisches Gesellschaftssystem etablieren. Es ist an der Zeit zu merken, daß es bei den Debatten um die sogenannte Multikulturalität längst um den gesellschaftlichen Pluralismus geht. Die Grundfragen lauten: Wieviel vermeintlich Fremdes verträgt die Gesellschaft? Wann wird das Fremde zu einer Gefahr für das Eigene? Und kann es etwas Fremdes geben, das zum Eigenen zählt?

Die Kultusministerin Schavan möchte den Islamismus bekämpfen. Das ehrt sie. Aber der säkularen deutschen Demokratie hat sie mit ihren Ausführungen, die eher in den Bereich des islamischen Katechismus als in den der Politik gehören, einen Bärendienst erwiesen. Das Kopftuch gab es schon vor dem Fundamentalismus und eigentlich auch schon vor dem Islam. Es ist schon ein kleiner Bildungsskandal, wie uninformiert eine Kultusministerin in Deutschland sein darf, wenn es um die islamische Kultur geht. So zieht man mit falschen Propheten in einen Glaubenskrieg, der nicht zu gewinnen ist. Ob das Tragen eines solches Tuches eine religiöse Pflicht ist oder politische Demonstration, sollten diejenigen entscheiden, die das Tuch tragen wollen, nämlich die Frauen selbst. Das Argument, die Frauen würden gezwungen, das Tuch zu tragen, entmündigt in erster Linie die Frauen.

Es gehört zu den Widersprüchen in der Debatte um eine Modernisierung des Islam, daß manche Gegner des Islamismus den Islam verkirchlichen wollen. Es gibt im Islam keine zentrale Instanz für Glaubensfragen. Zwischen Gläubigen und Gott steht niemand, außer vielleicht der Zweifel. Das ist kein Manko, das unbedingt behoben werden müßte. Ganz im Gegenteil, es zählt mit Sicherheit zu den großen Vorzügen und Stärken dieser Weltreligion. Vielmehr müßte die starke Rolle des Individuums im Islam wieder entdeckt und herausgestellt werden. Hier sind vor allem die Muslime in Europa gefordert, die zunehmend unter dem negativen Islambild zu leiden haben. Doch in welchen Universitäten und in welchen Medien wird über diese Fragen nachgedacht? Nicht Verkirchlichung und die Verletzung säkularer Prinzipien schwächt den radikalen, politisierten Islam, sondern eine Gemeinschaft, die den einzelnen stärkt und wie selbstverständlich die persönlichen Entscheidungen des einzelnen respektiert.

In einer Demokratie gehört der öffentliche Raum allen Bürgern. Die Schule ist ein öffentlicher Raum. Wenn staatliche Behörden in diesen Raum eingreifen, um für oder gegen ein religiöses Symbol zu agieren, verletzen sie die weltanschauliche Neutralität des Staates. Nur in einem Gottesstaat kann es eine staatliche Anordnung geben, Kreuze in Klassenzimmern aufzuhängen oder Kopftüchter zu tragen. Doch was geschieht, wenn das Kreuz nicht an der Wand hängt, sondern um den Hals einer Person? Darf der Staat dann das Tragen eines Kreuzes verbieten? Schon der Gedanke an ein solches Treiben wäre absurd. Bekleidung gehört zur Persönlichkeit des Menschen. Bekleidungsvorschriften gehören ins Mittelalter.

Wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen das Zusammenleben üben wollen, muß der Respekt vor der Mode und den Lebensgewohnheiten des anderen dabei den Anfang machen. Über Geschmacksfragen braucht es in einem pluralistischen System keine Einigung zu geben. Die Speisekarten sind keine Angelegenheit der Innenminister. Die Verfassung garantiert die Entfaltung der Persönlichkeit, solange nicht die Rechte anderer beschnitten werden. Sie garantiert aber nicht den Schutz vor Fremden. Das und nur das macht doch dieses dynamische System von feinen Unterschieden so lebens- und erstrebenswert. In Zukunft sollte zumindest in Deutschland nicht das Kopftuch, sondern der Kopf über die Qualifikation eines Menschen entscheiden. Zafer Șenocak

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