: Literatur im Wohnzimmer und Multikulti am Lesetisch
■ Seit 25 Jahren trifft sich am Chamissoplatz die Kreuzberger Szene für Off-Literatur: Das Programm ist unbekannt. Jeder kann lesen, was er geschrieben hat, oder zuhören. Gastgeber ist Nepomuk Ullmann, der Autor von 5.000 Liebesgedichten.
Eigentlich ist die Wohnungstür offen. Trotzdem verrät sie jedesmal mit einem hinterlistigen Quietschen, daß jemand den Flur betreten hat. Weiter hinten, im Wohnzimmer, checken 20 Augenpaare die momentane Platzsituation: Alle Stühle sind besetzt. Pech gehabt. Solange das dunkelhaarige Mädchen seine Gedichte vorträgt, bewegt sich niemand. Der neue Gast wartet erst mal im Flur.
Die Kreuzberger Literaturwerkstatt gibt es mit Unterbrechungen seit 25 Jahren. Im Haus am Chamissoplatz mit der Nummer 5 kann jeder eigene Texte vorlesen oder nur zuhören. Die Idee zu freien Lesungen gibt es auch in anderen Bezirken, aber hier ist der Kreis privater. Die offene Runde trifft sich im privaten Wohnzimmer, jeden Donnerstagabend. „Die Abende sind jedesmal anders“, sagt die Schriftstellerin MarCor. Niemand weiß vorher, wer kommen wird. Ein festes Programm gibt es nicht. Ob gelesen wird oder nur diskutiert, bestimmen die Gäste.
Der 55jährige Nepomuk Ullmann, Macher der Literaturwerkstatt und Gastgeber, ist selbst Autor und lebt seit 1968 in Berlin. Während seiner Auslandsaufenthalte in Algerien, Spanien, Frankreich und Schottland war die Literaturwerksatt geschlossen. Nach jeder Rückkehr eröffnete Ullmann sie wieder neu. An den wöchentlichen Treffen in seinem Wonzimmer schätzt er vor allem die unterschiedlichen Meinungen der Gäste: „Daß alle Anwesenden ein Gedicht gut finden, gibt es nicht. Wenn das so wäre, könnte ich die Werkstatt zumachen.“
Reine Autorentreffen lehnt Ullmann ab, weil Diskussionen mit Lesern interessanter sind, und von studierten Literaten hält er nicht viel. Er habe nie studiert, deshalb fehle ihm „dieser typische germanistische Mundgeruch“, grinst er und zupft seinen grauen Bart.
Die Wege in Ullmanns Wohnzimmer sind so verschieden wie die Gäste. An diesem Abend ist die Runde Kreuzberger Multikulti: Ein Lehrer und zwei Schülerinnen aus Schwaben fanden das Treffen im Internet, eine Studentin aus Österreich in der Zeitung. Wie die beiden Spanierinnen aus Barcelona von dem Treff erfuhren, verraten sie nicht. Der Musiker aus Wales ist wie der Psychologe aus China ein Freund des Gastgebers. Die beiden Japanerinnen sind schon zum zweiten Mal da.
Ullmann sitzt in Badeschlappen an dem runden Holztisch. „Hast Du heute nichts mitgebracht?“ fragt er eine der beiden Japanerinnen. Sie zieht ein Manuskript aus der Tasche und liest zwei Gedichte auf deutsch, dann noch eines auf japanisch. „Es gibt nur wenige Gedichte, die ich in beiden Sprachen habe“, erklärt sie. Daß sie sich beim Lesen einmal verspricht, stört keinen. Im Gegenteil. Eine Zuhörerin bemerkt, „breit und weit“ klinge viel schöner als „weit und breit“: „Laß das doch so!“
In manchen Lesepausen plaudert Ullmann aus dem Nähkästchen. Er erzählt, daß er nie Autor werden wollte. „Schreiben kam bei mir immer aus der Einsamkeit heraus.“ Wenn er heute schreibe, stelle er sich oft einen Fernseher dabei an, um sich „von der Welt zu überzeugen, wie sie absolut nicht ist“. Seine Arbeiten seien aber immer schon im Kopf fertig, bevor er anfange zu schreiben. „Dann muß es raus, sonst geht es verloren.“ MarCor widerspricht: „Nein, bei mir ist das anders. Manche Sachen habe ich zwanzig Jahre aufgehoben. Die Gedanken mußten erst reifen.“
Anscheinend will jetzt niemand mehr lesen. Ullmann blickt in die Runde. „Wie wär's, hättet ihr noch Lust auf einen Text?“ Ullmann greift zum Buch und liest „Meine Küsse“, eines seiner nach eigener Schätzung 5.000 Liebesgedichte.
Die Wohnungstür quietscht. Katze Hamlet springt vom vollgestopften Bücherregal. Ein verspäteter Großstadtpoet betritt grinsend das Wohnzimmer. Nach mittlerweile mehreren Gläsern Weißwein wird er von Ullmann überschwenglich begrüßt: „Hallo! Na, wie war's auf deiner Scheiß-Love- Parade? Mann, siehst du wieder zum Kotzen aus!“ Der junge Mann sagt gar nichts, grinst immer noch, nimmt sich einen Klappstuhl und setzt sich in die Runde. Susanne Sitzler
Treffen der Literaturwerkstatt donnerstags, 19 Uhr oder später bei Nepomuk Ullmann, Chamissoplatz 5.
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