: Drei Damen in Unterwäsche
Wie war wohl das Leben von Frau Sch.? – Eine Bildergeschichte ■ Von Andreas Hergeth
Vielleicht ist es die letzte Postkarte, die Frau Sch. empfangen hat. Das Stückchen bunte Pappe, eine wuschelige Miezekatze vorne drauf, stammt aus einer Zeit, in der Postkarten noch 20 Pfennig kosteten – Pfennig der DDR. Abgestempelt am 22. September 1989, neben der Briefmarke prangt eine dicke „40“, Honecker & Co hatten vor, den Republiksgeburtstag zu feiern. Ob Frau Sch. den 7. Oktober noch erlebt hat? Die Karte wurde ins Krankenhaus Friedrichshain geschickt, Innere Abteilung, Zimmer 10: „Liebe Omi! Viele Grüße und gute Besserung für Dich – sendet Dir Deine Jane u. Familie. Halte den Kopf hoch u. denke daran, daß wir Dich sehr lieb haben u. auf Dich warten.“
Innere Abteilung also. Die Genesungswünsche müssen die Kranke dennoch erreicht haben. Schließlich hätte ich die Karte mit samt einem dicken Fotoalbum und anderen stummen Zeitzeugen aus dem Leben der Frau Sch. sonst nicht finden können. Manchmal hat es eben doch Vorteile, in einem abbruchreifen Haus in Friedrichshain zu wohnen. Aus jeder Ritze lugt Geschichte, lugen Geschichten hervor. Keller und Dachboden müssen so schon vor hundert Jahren ausgesehen haben. Die Farben im Treppenhaus platzen in großflächigen Fladen ab und lassen auf dem braunen Linoleum der Treppen immer wieder neue Muster entstehen. Gefegt wird schon ein halbes Jahr nicht mehr, die neuen Eigentümer begannen mit ersten Sanierungsarbeiten.
Nicht fegen! Da hätte Frau Sch. bestimmt nicht mitgemacht. Ihre Wohnung, Parterre links, steht schon lange Jahre leer. Nein, nicht leer. Sie blieb unbewohnt, als Frau Sch., wahrscheinlich in den Wendemonaten, für immer auszog. Ihre vier Wände, eine Einraumwohnung mit Küche und so einem klassischen Berliner Zimmer mit nur einem einzigen Fenster am Ende, waren all die letzten Jahre mit ihren Möbeln und allerhand Pipapo vollgestopft. Die Angehörigen, also auch „Jane und Familie“, liebten zwar die Omi, aber offenbar nicht ihre Habe.
Irgendwann im letzten Jahr standen die Türen aller vier Wohnungen im Parterre offen. Nun leben und schliefen hier Punks und/ oder Penner. Mit den Türen wurde ein Spalt in die Welt fremder, nicht mehr anwesender Menschen geöffnet. In der Wohnung von Frau Sch. warteten fast sämtliche Möbel, viel Geschirr, allerhand Bekleidungsstücke, Schuhe und viel Krimskrams auf Erkundung. Alte Dinge haben eine Seele.
Hatte man sich an die Dunkelheit in den Räumen gewöhnt – dunkle Wohnungen können krank machen, vielleicht ist Frau Sch. ja auch an ihrer beschissenen Wohnung gestorben –, konnte die Entdeckungsreise beginnen. Mich hat der alte Spiegel interessiert, der in der Ecke stand und einst Teil eines Kleiderschrankes war. Jetzt steht er in meiner Wohnung, drei Stockwerke höher. In einer kleinen Kommode hatte Frau Sch. ganz ordentlich allerhand Nützliches aufgehoben, viele Gummibänder, altes Geschenkpapier, schön glatt gefaltet, und eine ganze Menge alter Tüten. Zum Beispiel eine aus der Apotheke des Klinikums Buch aus dem Jahre 1971. „Lufttabletten“ hat sie in schönster Sütterlinschrift darauf vermerkt. Und in einer Ecke, zwischen alten Gardinen: ein Fotoalbum. Zur Hälfte mit alten Bildern bestückt, alle aus den 50er und 60er Jahren. Nur eins ist jüngeren Datums. Ein kleiner Fratz im Kostüm beim Fasching. Ein Urenkel, ein Kind von Enkeltochter Jane? „Als Erinnerung an den Fasching in der Kinderkrippe RAW 1985. Unser kleiner Ronny als Sternchen und immer frisch und munter“, steht auf der Rückseite geschrieben. RAW – das Rundfunkapparate- oder Reichsbahnausbesserungswerk. Dort also hat Jane gearbeitet. In solchen Großbetrieben arbeiteten ganze Familien, eine Generation nach der andern. Vielleicht hatte auch Frau Sch. hier ihren Arbeitsplatz.
Die anderen Fotos: Immer wieder eine Frau im Zentrum des Objektivs, das muß sie also sein. Zwei Bilder müssen von einer größeren Feier stammen: ein großer Saal, Tischreihen, zwei Frauen, eine so um die 50, die andere etwa 25 Jahre alt. Frau Sch. und Tochter? Und viele Schnappschüsse von Ausflügen. Fast immer ohne einen Mann, entweder stand der jedesmal hinter der Kamera, oder Frau Sch. gehörte zu den Frauen ihrer Generation, die durch den kriegsbedingten Männermangel ohne Partner durchs Leben gehen mußten. Oder, oder. Richtig lustig ist ein Bild, das drei Damen in Unterwäsche zeigt. Sie machen Pause, eine Radtour oder so, essen ihr Brot, haben Spaß. Oft stehen die Damen aber auch einfach nur so da, in Grünau 1961 etwa im Wald, oder sitzen, mal mit, mal ohne Kind, auf Bänken rum und lächeln in die Linse. Vier Bilder gehören zusammen, auf einem steht „Ostern 1957“. Friedhof, frisches Grab – Frau Sch. und eine zweite Dame haben es liebevoll mit Pflanzen geschmückt.
Frau Sch.' Wohnung ist seit ein paar Wochen wirklich leer. Ausgeräumt und besenrein.
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