: Erinnerungsexzeß
■ Sommerakademie: Manfred Schneider spricht über die „Kultur des Vergessens“
Zukunft und Erinnerung haben im intellektuellen Geschäft Konjunktur. Mit dem Titel „Nach uns die Zukunft“ spielt die evangelische Sommerakademie biblisch und beziehungsreich auf die Vorherrschaft des Gegenwärtigen an. Vergangenes und zu Erwartendes wieder zu verknüpfen, ist das wolkige Dach, unter dem die Organisatoren ihr Programm ausbreiten. In dem kommt neben dem erlösenden Erinnern das nicht minder heilsame Vergessen vor.
Memorieren und Löschen sind zwei Seiten desselben Geschichtsbewußtseins, desselben individuellen Gedächtnisses und zuallererst Bestandteil der menschlichen Psyche, wie wir dank Freud wissen. Der Essener Literaturwissenschaftler Manfred Schneider versteigt sich in seinem heutigen Vortrag sogar dazu, eine „Kultur des Vergessens“ auszuloben. Angesichts der Datenmassen des High-Tech-Zeitalters ein überzeugender Gedanke. Computer und Internet machen alte Vorstellungen vom Gedächtnis obsolet. Gerade die christlichen Schöpfungs- und Stiftungsakte mit ihren auf Dauer und Zusammenhalt ausgelegten Sakramenten, haben ihre Verbindlichkeit eingebüßt.
Dem Exzeß der Erinnerung ist eigentlich nur mit Techniken des Vergessens beizukommen. Und das will gelernt sein: Gekonnt aus dem Gedächtnis tilgt nur, wer veritabel erinnert. Dann können sich Apologeten der Vergessenskunst an der vitalisierenden Wirkung des Löschens berauschen.
Schneiders Aussage, die Sorge um das Gedächtnis sei modern, verwundert kaum angesichts der Gewalttätigkeiten dieses Jahrhunderts. Sich zwischen gesellschaftlich aktiver Erinnerung und der Freiheit, vergessen zu können, zu bewegen, ist gerade in Deutschland ein politischer Drahtseilakt.
Thomas Schulze
19 Uhr, Esplanade 15
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen