: Die nationalen Interessen liegen im Osten
Egon Bahr schreibt den Wandel durch Annäherung fort. Für ihn hat die Verhinderung einer erneuten Bedrohungsmacht im Osten außenpolitische Priorität. Den USA billigt er nur eine begrenzte Rolle bei der Schaffung einer europäischen Friedensordnung zu ■ Von Andrea Goldberg
Die Amis tun es, die Briten und die Franzosen, auch die Italiener und Griechen, die Inder und die Brasilianer. Nur wir Deutschen tun uns schwer mit dem Gedanken, die außenpolitischen Interessen unseres Landes zu formulieren und auf Basis einer realistischen Einschätzung der Lage zu einer Diskussion der politischen Optionen zu gelangen, die dann schließlich zu den Vorgaben für eine erwachsene, unabhängige Politik führen kann.
In seiner Streitschrift „Deutsche Interessen“ unternimmt Egon Bahr den Versuch, dieser Diskussion auf die Sprünge zu helfen. Ein notwendiges, ja überfälliges Unterfangen, zehn Jahre nach der Vereinigung der beiden halbmündigen, blockgebundenen Teile Deutschlands.
Trotzdem war Bahrs wichtiger Vorstoß anscheinend ein Schlag ins Wasser; denn drei Monate nach Erscheinen hat sich keiner der tonangebenden Außenpolitiker zu Wort gemeldet, hat keine Zeitschrift, kein Fernsehsender eine Debatte initiiert, in der Bahrs Vorlage aufgegriffen wurde und die heißen Themen, die ja nicht verschwinden, wenn man sie ignoriert, auf die Tagesordnung gesetzt wurden.
Bahr benennt Wahrheiten, die man im allgemeinen lieber nicht ausspricht: die EU ist potentiell eine Weltmacht. Sie verfügt über Nuklearwaffen, zwei permanente Sitze im Sicherheitsrat, ein größeres Bruttosozialprodukt als die USA und könnte – wenn Wille und Einheit gegeben wären – in allen internationalen Organisationen der USA ihre dominierende Rolle streitig machen.
Ein ständiger Sitz für Deutschland im Sicherheitsrat kann für Bahr erst auf der Tagesordnung stehen, „wenn es sich inhaltlich profiliert, durch Aktionen und konstruktive Vorschläge für sich wirbt, die im Interesse der Vereinten Nationen und ihrer Reformen liegen“. Die Frage, was ein Europa mit integrierter Außenpolitik mit zwei oder gar drei Veto-Stimmen im Sicherheitsrat anfangen soll, stellt der Autor nicht.
Nach amerikanischem Modell schlägt Bahr vor, eine „Kommission für Nationale Interessen zu bilden“, die diese benennt und Vorgaben für eine ihnen gerechte Politik formuliert. Seinen ersten Beitrag zu dieser Diskussion steuert er gleich bei: Als vitale Interessen definiert Bahr die Notwendigkeit, zu verhindern, daß wieder eine Bedrohungsmacht im Osten entsteht, und die Schaffung einer gesamteuropäischen Stabilität. Herausragende Interessen sind für Bahr das Anstreben der globalen Handlungsfähigkeit Europas, die Vertiefung und Erweiterung bestehender Institutionen, die Erhaltung der nordatlantischen Sicherheitsstruktur und die Stärkung der UNO.
Schließlich umreißt er als drittes die wichtigen Interessen. Dazu zählt er zum einen die Unterstützung der Stabilitätsbemühungen im Kaukasus und in Mittelasien, im Nahen und Mittleren Osten, zum anderen fordert er einen Beitrag zur Gesundung Afrikas südlich der Sahara und eine Förderung der Wirtschaftsinteressen in Südostasien.
Auch aus dieser trockenen Auflistung kann man die Bedeutung, die Bahr dem deutsch-russischen Verhältnis beimißt, herauslesen. Gegenüber der traditionellen anglo-amerikanischen Politik, die Rußland aus Europa auszuschließen sucht, sieht Bahr den europäischen Frieden nur dauerhaft gewährleistet, wenn der gesamte Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok stabilisiert ist. Für ihn ist der „Europäische Frieden“ eine „europäische Aufgabe, nicht ohne Amerika, aber emanzipiert von ihm“.
Folgerichtig haben Ausbau und Umsetzung der Vertragswerke zwischen dem Westen und Rußland höchste Priorität. Während einerseits Rußland als voller Partner in die europäischen Sicherheitssysteme eingebunden werden soll, möchte Bahr die sicherheitspolitischen Interessen der ehemaligen Sowjetrepubliken nicht ausschließlich durch Rußland garantiert sehen.
Ob die von Bahr befürwortete deutsch-französische Führungsrolle auf dem Wege zu einer gesamteuropäischen Außen- und Sicherheitspolitik so hervorgehoben werden sollte, wie es der Autor tut, darüber kann und sollte man streiten. Denn jegliche Betonung dieser Doppelhegemonie erzeugt in Großbritannien und einigen kleineren EU-Staaten – nicht zu Unrecht – große Widerstände.
In zwei Punkten kommt Bahr bereits zu überraschend klaren Schlüssen: die Weiterführung der Nato-Osterweiterung und die fortgesetzte Stationierung von (amerikanischen) Kernwaffen auf deutschem Boden laufen den deutschen und gesamteuropäischen Sicherheitsinteressen zuwider. Würde ein grüner Abgeordneter es wagen, solchen Frevel laut zu denken, würde dies als erneuter Beweis der Regierungsunfähigkeit seiner Partei bewertet werden.
Einige Ideen wurden – wenigstens in dieser, oft stichworthaften Niederschrift – nicht zu ihrem logischen Schluß gebracht. Aber alle angesprochenen Themen sind von grundlegender Bedeutung. Das Buch ist voll von kontroversen, unkonventionellen Ansichten.
„Es lohnt sich, über eine neue Standortbestimmung deutscher Außenpolitik zu streiten“, lautet dann auch das Urteil des außenpolitischen Profis Bahr. Seine Provokation ist eine bewußte, ein Versuch, den Zug aus den alten, eingefahrenen Gleisen der abgeschlossenen Epoche herauszuführen. Es sagt viel über das gegenwärtige politische Klima, daß Schröder es sich leisten kann, Bahrs Denkanstöße zu ignorieren.
Viel spricht dafür, eine erfolgreiche Politik nicht in Frage zu stellen. Doch wer will es wagen, die europäische Sicherheitspolitik nach Ende des Kalten Krieges einen Erfolg zu nennen? Der breite Konsens bedeutet lediglich, daß die politische Klasse in ihrer großen Mehrheit auch auf diesem Gebiet Abschied von ihrer Verantwortung genommen hat. Es ehrt Bahr, den Architekten der wichtigsten und vernünftigsten außenpolitischen Initiative, die dieses Land in fünf Jahrzehnten zustande gebracht hat, daß er sich dieser Verantwortung stellt.
Egon Bahr: „Deutsche Interessen – Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik“. Karl Blessing Verlag, München 1998, 158 Seiten, 24,90 DM
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